Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1185.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0047" n="1185"/><lb n="pvi_1185.001"/> nun erst offenbar, weil es ausgesprochen wird. Dieß Aussprechen ist aber <lb n="pvi_1185.002"/> immer zugleich das Zusammenfassen der innern und äußern Welt: jene <lb n="pvi_1185.003"/> wird eben darum deutlich, weil durch das Wort alle Beziehungen auf diese, <lb n="pvi_1185.004"/> auf die Objecte, auf die Natur, auf die festen Formen der Gesellschaft, des <lb n="pvi_1185.005"/> Staats ausgedrückt, alle Seiten der Erscheinung verwendet werden können, <lb n="pvi_1185.006"/> um Seelenbewegungen zum Verständnisse zu bringen. Göthe bezeichnet das <lb n="pvi_1185.007"/> Wesen des Dichters, wenn er von Shakespeare rühmt, wie er das Geheimniß <lb n="pvi_1185.008"/> des Weltgeistes ausplaudert und verräth, wie es heraus muß und <lb n="pvi_1185.009"/> sollten es die Steine verkündigen, wie seine Charaktere ihr Herz in der <lb n="pvi_1185.010"/> Hand tragen, wie sie Uhren gleichen, deren durchsichtiges Zifferblatt das <lb n="pvi_1185.011"/> ganze innere Triebwerk sehen ließe. Der Dichter zeigt die Welt, wie sie sich <lb n="pvi_1185.012"/> stetig im Subjecte zum Lichte des Bewußtseins zusammenfaßt, die Welt im <lb n="pvi_1185.013"/> idealen Einheitspuncte der Persönlichkeit; er verwirklicht also mehr, als jeder <lb n="pvi_1185.014"/> andere Künstler, was der angeführte §. der Metaphysik des Schönen aufgestellt <lb n="pvi_1185.015"/> hat: daß alles Schöne persönlich ist. Er macht die Welt durchsichtig, <lb n="pvi_1185.016"/> man sieht durch alle Erscheinung auf den Brennpunct, dem alles <lb n="pvi_1185.017"/> Aeußere nur Anreiz, Organ und Stoff seiner freien Bestimmung ist. Wir <lb n="pvi_1185.018"/> haben von der Poesie bereits gesagt, der Ausdruck herrsche in ihr über die <lb n="pvi_1185.019"/> Form, wir haben ebendasselbe von der Malerei gesagt, aber auch in dieser <lb n="pvi_1185.020"/> Beziehung wiederholt sich der Charakter der Malerei in der Poesie auf höherer <lb n="pvi_1185.021"/> Stufe in unendlich intensiverem Sinne. – Die Auffassung der Welt unter <lb n="pvi_1185.022"/> dem Standpuncte der ausgesprochenen Persönlichkeit führt nun schließlich <lb n="pvi_1185.023"/> zum Standpuncte der Handlung. Die Persönlichkeit, mit dem Jnhalte der <lb n="pvi_1185.024"/> Welt in unendlichen Wechselwirkungen erfüllt, bestimmt die Welt durch <lb n="pvi_1185.025"/> Denken und Handeln. Das Denken kann als solches nicht den herrschenden <lb n="pvi_1185.026"/> Jnhalt eines Kunstwerks bilden, die Erschließung, die Verwirklichung der <lb n="pvi_1185.027"/> Persönlichkeit muß also die Handlung sein. Die Welt ist in der Anschauung <lb n="pvi_1185.028"/> der Poesie wesentlich Wille. Jn §. 684, 2. ist der Malerei ein vorzüglich <lb n="pvi_1185.029"/> dramatischer Charakter zuerkannt. Dieß im Gegensatze zu der Sculptur; <lb n="pvi_1185.030"/> vergleicht man aber jene Kunst mit der Poesie, so leuchtet ein, daß diese <lb n="pvi_1185.031"/> noch eine ganz andere Meisterinn ist in der Durchführung der straffen <lb n="pvi_1185.032"/> Spannungen, der entscheidenden Momente, zuckenden Blitze der That. Das <lb n="pvi_1185.033"/> ist die Spitze, in welche sie das weite und tiefe Bild des innern Lebens <lb n="pvi_1185.034"/> zusammendrängt, das sie vor uns entfaltet; auf diese Spitze stellt sie die <lb n="pvi_1185.035"/> Welt; sie ist radical, aus der Tiefe der Freiheit läßt sie die durchgreifenden <lb n="pvi_1185.036"/> Acte heranschwellen, welche den Faden des Gegebenen, die Macht des blos <lb n="pvi_1185.037"/> Zuständlichen durchschneiden. Diese Stellung der Welt unter den Standpunct <lb n="pvi_1185.038"/> des Willens darf natürlich nicht in nackter Einfachheit verstanden <lb n="pvi_1185.039"/> werden; sie schließt z. B. den Zufall nicht aus, nur daß er nicht gilt, als <lb n="pvi_1185.040"/> sofern er vom Willen zum Motiv erhoben wird; es darf ferner nicht blos <lb n="pvi_1185.041"/> an einzelne Willens-Acte gedacht werden, sondern ebensosehr an fortdauernde </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1185/0047]
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nun erst offenbar, weil es ausgesprochen wird. Dieß Aussprechen ist aber pvi_1185.002
immer zugleich das Zusammenfassen der innern und äußern Welt: jene pvi_1185.003
wird eben darum deutlich, weil durch das Wort alle Beziehungen auf diese, pvi_1185.004
auf die Objecte, auf die Natur, auf die festen Formen der Gesellschaft, des pvi_1185.005
Staats ausgedrückt, alle Seiten der Erscheinung verwendet werden können, pvi_1185.006
um Seelenbewegungen zum Verständnisse zu bringen. Göthe bezeichnet das pvi_1185.007
Wesen des Dichters, wenn er von Shakespeare rühmt, wie er das Geheimniß pvi_1185.008
des Weltgeistes ausplaudert und verräth, wie es heraus muß und pvi_1185.009
sollten es die Steine verkündigen, wie seine Charaktere ihr Herz in der pvi_1185.010
Hand tragen, wie sie Uhren gleichen, deren durchsichtiges Zifferblatt das pvi_1185.011
ganze innere Triebwerk sehen ließe. Der Dichter zeigt die Welt, wie sie sich pvi_1185.012
stetig im Subjecte zum Lichte des Bewußtseins zusammenfaßt, die Welt im pvi_1185.013
idealen Einheitspuncte der Persönlichkeit; er verwirklicht also mehr, als jeder pvi_1185.014
andere Künstler, was der angeführte §. der Metaphysik des Schönen aufgestellt pvi_1185.015
hat: daß alles Schöne persönlich ist. Er macht die Welt durchsichtig, pvi_1185.016
man sieht durch alle Erscheinung auf den Brennpunct, dem alles pvi_1185.017
Aeußere nur Anreiz, Organ und Stoff seiner freien Bestimmung ist. Wir pvi_1185.018
haben von der Poesie bereits gesagt, der Ausdruck herrsche in ihr über die pvi_1185.019
Form, wir haben ebendasselbe von der Malerei gesagt, aber auch in dieser pvi_1185.020
Beziehung wiederholt sich der Charakter der Malerei in der Poesie auf höherer pvi_1185.021
Stufe in unendlich intensiverem Sinne. – Die Auffassung der Welt unter pvi_1185.022
dem Standpuncte der ausgesprochenen Persönlichkeit führt nun schließlich pvi_1185.023
zum Standpuncte der Handlung. Die Persönlichkeit, mit dem Jnhalte der pvi_1185.024
Welt in unendlichen Wechselwirkungen erfüllt, bestimmt die Welt durch pvi_1185.025
Denken und Handeln. Das Denken kann als solches nicht den herrschenden pvi_1185.026
Jnhalt eines Kunstwerks bilden, die Erschließung, die Verwirklichung der pvi_1185.027
Persönlichkeit muß also die Handlung sein. Die Welt ist in der Anschauung pvi_1185.028
der Poesie wesentlich Wille. Jn §. 684, 2. ist der Malerei ein vorzüglich pvi_1185.029
dramatischer Charakter zuerkannt. Dieß im Gegensatze zu der Sculptur; pvi_1185.030
vergleicht man aber jene Kunst mit der Poesie, so leuchtet ein, daß diese pvi_1185.031
noch eine ganz andere Meisterinn ist in der Durchführung der straffen pvi_1185.032
Spannungen, der entscheidenden Momente, zuckenden Blitze der That. Das pvi_1185.033
ist die Spitze, in welche sie das weite und tiefe Bild des innern Lebens pvi_1185.034
zusammendrängt, das sie vor uns entfaltet; auf diese Spitze stellt sie die pvi_1185.035
Welt; sie ist radical, aus der Tiefe der Freiheit läßt sie die durchgreifenden pvi_1185.036
Acte heranschwellen, welche den Faden des Gegebenen, die Macht des blos pvi_1185.037
Zuständlichen durchschneiden. Diese Stellung der Welt unter den Standpunct pvi_1185.038
des Willens darf natürlich nicht in nackter Einfachheit verstanden pvi_1185.039
werden; sie schließt z. B. den Zufall nicht aus, nur daß er nicht gilt, als pvi_1185.040
sofern er vom Willen zum Motiv erhoben wird; es darf ferner nicht blos pvi_1185.041
an einzelne Willens-Acte gedacht werden, sondern ebensosehr an fortdauernde
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