Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1182.001 §. 841. pvi_1182.034Dieser Verlust wird reichlich ersetzt durch das schlechthin Neue, was pvi_1182.035
pvi_1182.001 §. 841. pvi_1182.034Dieser Verlust wird reichlich ersetzt durch das schlechthin Neue, was pvi_1182.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0044" n="1182"/><lb n="pvi_1182.001"/> die noch nicht Kunst ist, wesentlich dadurch verschieden, daß sie sich nach <lb n="pvi_1182.002"/> außen erschließt, sich in einem technisch durchgeführten Gebilde mittheilt, <lb n="pvi_1182.003"/> wogegen das Gebilde der noch nicht künstlerisch thätigen Phantasie wesentlich <lb n="pvi_1182.004"/> noch ein unreifes ist; ihr Erzeugniß hat also nicht nur Objectivität <lb n="pvi_1182.005"/> in dem Sinne, wie das innere Jdealbild überhaupt, sondern die ganz <lb n="pvi_1182.006"/> entwickelte Objectivität der Kunstgestaltung; allein es bleibt in dieser Erschließung <lb n="pvi_1182.007"/> nach außen doch innerlich und muß daher die Unbestimmtheit <lb n="pvi_1182.008"/> und Undeutlichkeit des Phantasiebildes, das sich noch gar nicht erschlossen <lb n="pvi_1182.009"/> hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, dessen <lb n="pvi_1182.010"/> Glieder in festem Kunstverhältniß stehen, aber dieß ist ein Körper, aus <lb n="pvi_1182.011"/> welchem der Blitz des Gedankens mit einer Bestimmtheit leuchtet, in welcher <lb n="pvi_1182.012"/> diejenige Bestimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umrisse sich verzehrt, <lb n="pvi_1182.013"/> die dem Werke der bildenden Kunst eigen ist. Das vollständige, wirkliche <lb n="pvi_1182.014"/> Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden <lb n="pvi_1182.015"/> Künstlers vor dem Dichter. Es müssen nun auch die Jncongruenzen stärker <lb n="pvi_1182.016"/> betont werden, welche schon zu §. 839, Anm. 1. berührt sind. Der Dichter <lb n="pvi_1182.017"/> wird der Undeutlichkeit, an welcher seine Bilder in Vergleichung mit denen <lb n="pvi_1182.018"/> des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen <lb n="pvi_1182.019"/> streben. Allein es ist dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform <lb n="pvi_1182.020"/> darstellend rückt er ja fort. Dieser wichtige Satz ist hier vorerst einfach <lb n="pvi_1182.021"/> hinzustellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzusetzen und <lb n="pvi_1182.022"/> in seine Consequenzen zu verfolgen. Es handelt sich jedoch nicht nur von <lb n="pvi_1182.023"/> der Deutlichkeit, sondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich <lb n="pvi_1182.024"/> Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geschieht, dargestellt <lb n="pvi_1182.025"/> werden soll, so ist nicht die Vielheit an sich dem Dichter ein Hinderniß, <lb n="pvi_1182.026"/> denn die Phantasie schaut gleichzeitig Vieles und er mag sein Gesichtsfeld <lb n="pvi_1182.027"/> strecken, so weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen sich in der <lb n="pvi_1182.028"/> Zeitform, ein Geschehen ist darzustellen und der Dichter kann nur Eine <lb n="pvi_1182.029"/> dieser gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß ist die <lb n="pvi_1182.030"/> andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite seiner Kunst <lb n="pvi_1182.031"/> erkauft; beide Seiten fassen sich zusammen in dem Widerspruche des Successiven <lb n="pvi_1182.032"/> mit dem Simultanen.</hi> </p> <lb n="pvi_1182.033"/> <p> <hi rendition="#c">§. 841.</hi> </p> <lb n="pvi_1182.034"/> <p> Dieser Verlust wird reichlich ersetzt durch das <hi rendition="#g">schlechthin Neue,</hi> was <lb n="pvi_1182.035"/> gewonnen ist. Zunächst liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeitlichen: <lb n="pvi_1182.036"/> die Dichtkunst fesselt nicht einen Moment der Bewegung an das Nebeneinander <lb n="pvi_1182.037"/> des Raumes, sondern ihre Gestalten bewegen sich vor dem innern Auge <lb n="pvi_1182.038"/> wirklich und sie führt daher eine <hi rendition="#g">Reihe</hi> von Momenten vorüber, deren Abschluß <lb n="pvi_1182.039"/> nur der künstlerische Zweck bestimmt. Dieser wesentliche Fortschritt vereinigt <lb n="pvi_1182.040"/> sich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1182/0044]
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die noch nicht Kunst ist, wesentlich dadurch verschieden, daß sie sich nach pvi_1182.002
außen erschließt, sich in einem technisch durchgeführten Gebilde mittheilt, pvi_1182.003
wogegen das Gebilde der noch nicht künstlerisch thätigen Phantasie wesentlich pvi_1182.004
noch ein unreifes ist; ihr Erzeugniß hat also nicht nur Objectivität pvi_1182.005
in dem Sinne, wie das innere Jdealbild überhaupt, sondern die ganz pvi_1182.006
entwickelte Objectivität der Kunstgestaltung; allein es bleibt in dieser Erschließung pvi_1182.007
nach außen doch innerlich und muß daher die Unbestimmtheit pvi_1182.008
und Undeutlichkeit des Phantasiebildes, das sich noch gar nicht erschlossen pvi_1182.009
hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, dessen pvi_1182.010
Glieder in festem Kunstverhältniß stehen, aber dieß ist ein Körper, aus pvi_1182.011
welchem der Blitz des Gedankens mit einer Bestimmtheit leuchtet, in welcher pvi_1182.012
diejenige Bestimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umrisse sich verzehrt, pvi_1182.013
die dem Werke der bildenden Kunst eigen ist. Das vollständige, wirkliche pvi_1182.014
Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden pvi_1182.015
Künstlers vor dem Dichter. Es müssen nun auch die Jncongruenzen stärker pvi_1182.016
betont werden, welche schon zu §. 839, Anm. 1. berührt sind. Der Dichter pvi_1182.017
wird der Undeutlichkeit, an welcher seine Bilder in Vergleichung mit denen pvi_1182.018
des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen pvi_1182.019
streben. Allein es ist dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform pvi_1182.020
darstellend rückt er ja fort. Dieser wichtige Satz ist hier vorerst einfach pvi_1182.021
hinzustellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzusetzen und pvi_1182.022
in seine Consequenzen zu verfolgen. Es handelt sich jedoch nicht nur von pvi_1182.023
der Deutlichkeit, sondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich pvi_1182.024
Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geschieht, dargestellt pvi_1182.025
werden soll, so ist nicht die Vielheit an sich dem Dichter ein Hinderniß, pvi_1182.026
denn die Phantasie schaut gleichzeitig Vieles und er mag sein Gesichtsfeld pvi_1182.027
strecken, so weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen sich in der pvi_1182.028
Zeitform, ein Geschehen ist darzustellen und der Dichter kann nur Eine pvi_1182.029
dieser gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß ist die pvi_1182.030
andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite seiner Kunst pvi_1182.031
erkauft; beide Seiten fassen sich zusammen in dem Widerspruche des Successiven pvi_1182.032
mit dem Simultanen.
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§. 841.
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Dieser Verlust wird reichlich ersetzt durch das schlechthin Neue, was pvi_1182.035
gewonnen ist. Zunächst liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeitlichen: pvi_1182.036
die Dichtkunst fesselt nicht einen Moment der Bewegung an das Nebeneinander pvi_1182.037
des Raumes, sondern ihre Gestalten bewegen sich vor dem innern Auge pvi_1182.038
wirklich und sie führt daher eine Reihe von Momenten vorüber, deren Abschluß pvi_1182.039
nur der künstlerische Zweck bestimmt. Dieser wesentliche Fortschritt vereinigt pvi_1182.040
sich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.
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