Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1460.001
pvi_1460.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0322" n="1460"/><lb n="pvi_1460.001"/> Satyre im Unterschiede von der ächten Poesie ist ihre Neigung, einzelne <lb n="pvi_1460.002"/> gegebene Formen und Erzeugnisse der Poesie in's Komische zu ziehen, sei <lb n="pvi_1460.003"/> es durch Unterschiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des <lb n="pvi_1460.004"/> großen und heroischen im <hi rendition="#g">parodirten,</hi> sei es durch Belassung des Subjects <lb n="pvi_1460.005"/> und Vertauschung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt <lb n="pvi_1460.006"/> modernen im <hi rendition="#g">travestirten</hi> Originale. Der ächte Komiker beschenkt statt <lb n="pvi_1460.007"/> dessen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder <lb n="pvi_1460.008"/> travestirte, wie wir schon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter= <lb n="pvi_1460.009"/> Romane, sondern schuf in seinem ironischen Bilde des Zusammenstoßes der <lb n="pvi_1460.010"/> ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realistischen <lb n="pvi_1460.011"/> Roman. Gerade die Geschichte des Romans zeigt übrigens belehrend die <lb n="pvi_1460.012"/> mancherlei Uebergänge zwischen Satyre und Komik. So erschien in Deutschland <lb n="pvi_1460.013"/> manches Satyrische in Romanform gegen den puritanischen Geist <lb n="pvi_1460.014"/> der Romane nach Richardson, gegen den Jdealismus Klopstock's, gegen <lb n="pvi_1460.015"/> Physiognomik, gegen Geniewesen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis <lb n="pvi_1460.016"/> diese unreifen Bildungen unter wachsendem Einfluß der englischen Humoristen, <lb n="pvi_1460.017"/> welche selbst von der Jronie gegen Richardson's absolute Tugendmuster <lb n="pvi_1460.018"/> ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an <lb n="pvi_1460.019"/> unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abschluß fanden. – Hiemit <lb n="pvi_1460.020"/> sehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poesie folgt, <lb n="pvi_1460.021"/> zunächst dem epischen. Das komische Epos, das nichts als eine Parodie <lb n="pvi_1460.022"/> oder Travestie der Gattung ist, haben wir bereits hieher verwiesen. Das <lb n="pvi_1460.023"/> Lyrische muß einem Verhalten, das am liebsten mit wiederholten einzelnen <lb n="pvi_1460.024"/> Stichen sich gegen die Welt wendet, natürlich eine besonders angemessene <lb n="pvi_1460.025"/> Form sein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieser vorzüglich das <lb n="pvi_1460.026"/> <hi rendition="#g">Epigramm</hi> ihr natürlicher Boden ist, ergibt sich von selbst, aber darum <lb n="pvi_1460.027"/> ist ihr doch das leichte Lied nicht verschlossen; je mehr sie sich allerdings in <lb n="pvi_1460.028"/> dessen Ton versetzt, um so mehr erhebt sie sich auch in den Humor. Ein <lb n="pvi_1460.029"/> schönes Beispiel hievon sind Göthe's „Musen und Grazien in der Mark“; <lb n="pvi_1460.030"/> man sieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieser Hand Alles, selbst <lb n="pvi_1460.031"/> die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politische Spottlied muß <lb n="pvi_1460.032"/> freilich schwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterschied <lb n="pvi_1460.033"/> von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatischen <lb n="pvi_1460.034"/> kann die der Satyre beliebte Gesprächsform gezogen werden. Lucian hat <lb n="pvi_1460.035"/> das Muster gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Person <lb n="pvi_1460.036"/> auftreten und in der Dialektik der Wechselrede seine inneren Widersprüche <lb n="pvi_1460.037"/> naiv bekennen lassen muß; Horaz geht vielfach in diese belebte Form über. <lb n="pvi_1460.038"/> Das sechszehnte Jahrhundert hat sie rüstig aufgenommen; wir erinnern <lb n="pvi_1460.039"/> nur an U. v. Hutten's Gespräch: die Anschauenden. Auch die Briefform <lb n="pvi_1460.040"/> nähert sich, wenn sie verschiedene Personen auftreten läßt, dem Dramatischen; <lb n="pvi_1460.041"/> Meisterwerk für alle Zeit bleiben die <hi rendition="#aq">Epistolae obscurorum virorum</hi>. Je </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1460/0322]
pvi_1460.001
Satyre im Unterschiede von der ächten Poesie ist ihre Neigung, einzelne pvi_1460.002
gegebene Formen und Erzeugnisse der Poesie in's Komische zu ziehen, sei pvi_1460.003
es durch Unterschiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des pvi_1460.004
großen und heroischen im parodirten, sei es durch Belassung des Subjects pvi_1460.005
und Vertauschung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt pvi_1460.006
modernen im travestirten Originale. Der ächte Komiker beschenkt statt pvi_1460.007
dessen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder pvi_1460.008
travestirte, wie wir schon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter= pvi_1460.009
Romane, sondern schuf in seinem ironischen Bilde des Zusammenstoßes der pvi_1460.010
ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realistischen pvi_1460.011
Roman. Gerade die Geschichte des Romans zeigt übrigens belehrend die pvi_1460.012
mancherlei Uebergänge zwischen Satyre und Komik. So erschien in Deutschland pvi_1460.013
manches Satyrische in Romanform gegen den puritanischen Geist pvi_1460.014
der Romane nach Richardson, gegen den Jdealismus Klopstock's, gegen pvi_1460.015
Physiognomik, gegen Geniewesen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis pvi_1460.016
diese unreifen Bildungen unter wachsendem Einfluß der englischen Humoristen, pvi_1460.017
welche selbst von der Jronie gegen Richardson's absolute Tugendmuster pvi_1460.018
ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an pvi_1460.019
unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abschluß fanden. – Hiemit pvi_1460.020
sehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poesie folgt, pvi_1460.021
zunächst dem epischen. Das komische Epos, das nichts als eine Parodie pvi_1460.022
oder Travestie der Gattung ist, haben wir bereits hieher verwiesen. Das pvi_1460.023
Lyrische muß einem Verhalten, das am liebsten mit wiederholten einzelnen pvi_1460.024
Stichen sich gegen die Welt wendet, natürlich eine besonders angemessene pvi_1460.025
Form sein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieser vorzüglich das pvi_1460.026
Epigramm ihr natürlicher Boden ist, ergibt sich von selbst, aber darum pvi_1460.027
ist ihr doch das leichte Lied nicht verschlossen; je mehr sie sich allerdings in pvi_1460.028
dessen Ton versetzt, um so mehr erhebt sie sich auch in den Humor. Ein pvi_1460.029
schönes Beispiel hievon sind Göthe's „Musen und Grazien in der Mark“; pvi_1460.030
man sieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieser Hand Alles, selbst pvi_1460.031
die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politische Spottlied muß pvi_1460.032
freilich schwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterschied pvi_1460.033
von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatischen pvi_1460.034
kann die der Satyre beliebte Gesprächsform gezogen werden. Lucian hat pvi_1460.035
das Muster gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Person pvi_1460.036
auftreten und in der Dialektik der Wechselrede seine inneren Widersprüche pvi_1460.037
naiv bekennen lassen muß; Horaz geht vielfach in diese belebte Form über. pvi_1460.038
Das sechszehnte Jahrhundert hat sie rüstig aufgenommen; wir erinnern pvi_1460.039
nur an U. v. Hutten's Gespräch: die Anschauenden. Auch die Briefform pvi_1460.040
nähert sich, wenn sie verschiedene Personen auftreten läßt, dem Dramatischen; pvi_1460.041
Meisterwerk für alle Zeit bleiben die Epistolae obscurorum virorum. Je
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |