pvi_1447.001 Anhang zur Lehre von der dramatischen Dichtkunst. pvi_1447.002 Die Schauspielkunst.
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§. 921.
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Die Dichtkunst hat die sichtbare und hörbare Welt nur der innern Vor-1.pvi_1447.005 stellung wieder eröffnet. Bis zur vollen Gegenwärtigkeit, aber zunächst in derselben pvi_1447.006 Grenze, ist dieß im Drama geschehen; hier aber wird diese Grenze nothwendig pvi_1447.007 durchbrochen, die innere Gegenwart geht in die äußere, sinnliche über, pvi_1447.008 indem die lebendige Persönlichkeit mit den Mitteln der Darstellung für das pvi_1447.009 Auge und Ohr, Action und Declamation, als Material herbeigezogen wird, pvi_1447.010 um das Werk der Poesie zur Anschauung zu bringen. Die Schauspielkunst,pvi_1447.011 welche dieß leistet, ist zwar blos anhängend, aber, weil die Reproduction des pvi_1447.012 Dichtwerks productiv künstlerischen Geist fordert, die höchste unter den anhängenden pvi_1447.013 Künsten. Jhre Geschichte zeigt in entschiedener Gestalt den Gegensatz2.pvi_1447.014 des direct idealen und des charakteristischen Styls.
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1. Daß nicht bloß die sichtbare, sondern auch die hörbare Welt pvi_1447.016 von der Dichtkunst für die innere Vorstellung wieder aufgethan ist, muß pvi_1447.017 hier ausdrücklich noch aufgenommen werden. Diese Kunst spricht, aber sie pvi_1447.018 spricht nicht nur selbst, sondern führt uns durch ihr Sprechen das Sprechen pvi_1447.019 der dargestellten Personen vor und bringt uns überhaupt die Tonwelt vor pvi_1447.020 den inneren Sinn. Nur in der lyrischen Form fällt das Sprechen als Vehikel pvi_1447.021 der Kunst und als Jnhalt, den dieses Vehikel uns mittheilt, einfach zusammen, pvi_1447.022 denn der Dichter spricht hier im eigenen Namen; das Epos pvi_1447.023 meldet uns vom Sprechen und von Tönen, und kann allerdings, doch ist pvi_1447.024 dieß nicht wesentlich und nothwendig, die Personen auch in directer Rede pvi_1447.025 sprechend einführen; in der dramatischen Dichtkunst dagegen spricht der pvi_1447.026 Dichter als objectiv gewordenes, in seine Personen auseinandergelegtes pvi_1447.027 Subject so, daß man vielmehr nur diese vernimmt und daß sie gegenwärtig pvi_1447.028 sprechend die Handlung erwirken. Dieß Alles also zunächst nur für die pvi_1447.029 innere Vorstellung. Die Poesie hat auf alle Sinnenwirkung, bis auf das
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Die Dichtkunst hat die sichtbare und hörbare Welt nur der innern Vor-1.pvi_1447.005 stellung wieder eröffnet. Bis zur vollen Gegenwärtigkeit, aber zunächst in derselben pvi_1447.006 Grenze, ist dieß im Drama geschehen; hier aber wird diese Grenze nothwendig pvi_1447.007 durchbrochen, die innere Gegenwart geht in die äußere, sinnliche über, pvi_1447.008 indem die lebendige Persönlichkeit mit den Mitteln der Darstellung für das pvi_1447.009 Auge und Ohr, Action und Declamation, als Material herbeigezogen wird, pvi_1447.010 um das Werk der Poesie zur Anschauung zu bringen. Die Schauspielkunst,pvi_1447.011 welche dieß leistet, ist zwar blos anhängend, aber, weil die Reproduction des pvi_1447.012 Dichtwerks productiv künstlerischen Geist fordert, die höchste unter den anhängenden pvi_1447.013 Künsten. Jhre Geschichte zeigt in entschiedener Gestalt den Gegensatz2.pvi_1447.014 des direct idealen und des charakteristischen Styls.
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1. Daß nicht bloß die sichtbare, sondern auch die hörbare Welt pvi_1447.016 von der Dichtkunst für die innere Vorstellung wieder aufgethan ist, muß pvi_1447.017 hier ausdrücklich noch aufgenommen werden. Diese Kunst spricht, aber sie pvi_1447.018 spricht nicht nur selbst, sondern führt uns durch ihr Sprechen das Sprechen pvi_1447.019 der dargestellten Personen vor und bringt uns überhaupt die Tonwelt vor pvi_1447.020 den inneren Sinn. Nur in der lyrischen Form fällt das Sprechen als Vehikel pvi_1447.021 der Kunst und als Jnhalt, den dieses Vehikel uns mittheilt, einfach zusammen, pvi_1447.022 denn der Dichter spricht hier im eigenen Namen; das Epos pvi_1447.023 meldet uns vom Sprechen und von Tönen, und kann allerdings, doch ist pvi_1447.024 dieß nicht wesentlich und nothwendig, die Personen auch in directer Rede pvi_1447.025 sprechend einführen; in der dramatischen Dichtkunst dagegen spricht der pvi_1447.026 Dichter als objectiv gewordenes, in seine Personen auseinandergelegtes pvi_1447.027 Subject so, daß man vielmehr nur diese vernimmt und daß sie gegenwärtig pvi_1447.028 sprechend die Handlung erwirken. Dieß Alles also zunächst nur für die pvi_1447.029 innere Vorstellung. Die Poesie hat auf alle Sinnenwirkung, bis auf das
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Dichtwerks productiv künstlerischen Geist fordert, die höchste unter den anhängenden pvi_1447.013
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1. Daß nicht bloß die sichtbare, sondern auch die hörbare Welt pvi_1447.016
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. E1447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/309>, abgerufen am 16.02.2025.
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