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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Auge hat, das auch den andern Standpunct fordert, welcher in die reine pvi_1446.002
Form den ethischen Ernst einschließt. Es ist im Erhabenen, sagt §. 229, pvi_1446.003
dem ganzen Schönen ein Unrecht geschehen, indem das Moment der Sinnlichkeit, pvi_1446.004
Einzelheit, Gegenwärtigkeit negirt wurde; das Komische ist auch pvi_1446.005
ein Unrecht, indem es die Jdee negirt. Die humoristische Subjectivität pvi_1446.006
weiß sich als Hort und Bürge der Jdee, nur darum wagt sie, in jeder pvi_1446.007
Gestalt sie zu verflüchtigen und aufzulösen, aber sie behält sich ebendarum pvi_1446.008
die wahre Wiederherstellung derselben stets nur vor, ist mit keiner Wirklichkeit pvi_1446.009
derselben zufrieden, gönnt keiner, sich auszubreiten. Und das ist der pvi_1446.010
gute, der höchste Fall. Verbirgt sich unter dem substantiösen Pathos der pvi_1446.011
Tragödie leicht die überschauende Weisheit und den Stoff beherrschende Jronie, pvi_1446.012
lockt daher diese Dichtart Geister an, die es nie über das Pathologische pvi_1446.013
bringen, so ist die leichte Luft der Komödie auch das Element für die windigen pvi_1446.014
Geister, für die leere Subjectivität im sublimeren und im niedrigeren pvi_1446.015
Sinne: jene kennt nicht den Ausgangspunct vom Ernst im komischen pvi_1446.016
Prozesse, verflüchtigt geistreich Alles im Schaum des inhaltslosen Spiels, pvi_1446.017
wie unsere Romantiker es als Prinzip aufgestellt und geübt haben; was pvi_1446.018
sie noch Stoffartiges bewahrt, ist die reine Grille, die Caprice, die so wenig pvi_1446.019
komisch, als ernst motivirt ist; diese zerrt an den Lachmuskeln um jeden pvi_1446.020
Preis und meint, das Komische dürfe gemein sein, weil es sich mit dem pvi_1446.021
Gemeinen befassen muß. Da verlangt die positive Jdealität des Ernstes pvi_1446.022
wieder ihr volles Recht und man sehnt sich, daß sie mit dem strengen Antlitz pvi_1446.023
unter die Narren trete. Shakespeare hat in seiner letzten Periode nur Komödieen pvi_1446.024
mit besonders starker Grundlage des Ernstes geschrieben: Cymbeline, pvi_1446.025
Wintermährchen, Sturm, Maaß für Maaß (die gallige Satyre Timon pvi_1446.026
von Athen nicht zu rechnen); aber, was wichtiger ist, er hat den Hamlet pvi_1446.027
vollendet, Julius Cäsar, Antonius und Cleopatra, Coriolan, Makbeth, pvi_1446.028
Othello gedichtet, gedankentief, stahlhart, gedrängt und gesättigt von finsterer pvi_1446.029
Kraft und furchtbarem Schicksalsgefühle, doch aber ohne die Freiheit des pvi_1446.030
Gemüths in die Gewalt des Affects zu verlieren und ohne stoffartige Bitterkeit pvi_1446.031
in der Schlußempfindung.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/308>, abgerufen am 25.11.2024.