Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1443.001 2. Jm Uebrigen kann der Unterschied der Hauptformen des Komischen pvi_1443.015 §. 920. pvi_1443.029Dem Werthverhältnisse nach steht die Komödie insofern über der Tragödie, pvi_1443.030 Man muß sich natürlich auch hier hüten, ein abstractes Verhältniß pvi_1443.038
pvi_1443.001 2. Jm Uebrigen kann der Unterschied der Hauptformen des Komischen pvi_1443.015 §. 920. pvi_1443.029Dem Werthverhältnisse nach steht die Komödie insofern über der Tragödie, pvi_1443.030 Man muß sich natürlich auch hier hüten, ein abstractes Verhältniß pvi_1443.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0305" n="1443"/><lb n="pvi_1443.001"/> und davon handelt es sich, denn die Posse spielt eben wegen ihrer <lb n="pvi_1443.002"/> Kürze nothwendig in dem Elemente der greiflichen Komik, des Burlesken, <lb n="pvi_1443.003"/> und liebt denn bei aller Kunstform der Behandlung auch vorneherein in <lb n="pvi_1443.004"/> der Fabel den Boden der sinnlichen Contraste. Jhr entspricht das <hi rendition="#g">Satyr= <lb n="pvi_1443.005"/> Drama</hi> der Alten. Es war vom Volke gefordert, das sich die Lust des <lb n="pvi_1443.006"/> Dionysos-Festes nicht ganz durch die Tragödie nehmen lassen wollte, sondern <lb n="pvi_1443.007"/> eine Erholung von ihrem strengen Ernste bedurfte, und diese Bedeutung <lb n="pvi_1443.008"/> hat auch die moderne Posse. Das Komische ist unendlich mehr, als bloße <lb n="pvi_1443.009"/> Erholung, aber es ist doch wesentlich <hi rendition="#g">auch</hi> Erholung, und wenn der deutsche <lb n="pvi_1443.010"/> Ernst es verschmäht, jener wehmüthigen Beruhigung, welche im Schlusse der <lb n="pvi_1443.011"/> ächten Tragödie liegt, noch das derbe Gelächter folgen zu lassen, so mag er <lb n="pvi_1443.012"/> doch dem leichteren französischen Blute darum, weil es solche Abspannung <lb n="pvi_1443.013"/> liebt, so wenig zürnen, als dem griechischen.</hi> </p> <lb n="pvi_1443.014"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Jm Uebrigen kann der Unterschied der Hauptformen des Komischen <lb n="pvi_1443.015"/> keine Eintheilung begründen; die verschiedenen Arten der Komödie, wie sie <lb n="pvi_1443.016"/> sich uns nach andern Eintheilungsgründen ergeben haben, stellen sich sämmtlich <lb n="pvi_1443.017"/> bald mehr auf diesen, bald mehr auf jenen Boden, und Bestimmteres <lb n="pvi_1443.018"/> läßt sich nur so viel sagen, was übrigens schon in unsern frühern Erörterungen <lb n="pvi_1443.019"/> mehrfach von selbst hervorgetreten ist: das Jntriguenspiel mit seinen <lb n="pvi_1443.020"/> Schachzügen gehört mehr dem Witze, das Charakterspiel, nur nicht jenes, <lb n="pvi_1443.021"/> das den Charakter typisch behandelt wie Moliere, dem Humor an. Daß <lb n="pvi_1443.022"/> der hochkomische Styl, wie er sich bei Aristophanes mit dem politischen <lb n="pvi_1443.023"/> Stoffe verbunden hat, im großartigen mythischen Wahnsinn seiner Fabel <lb n="pvi_1443.024"/> humoristisch ist, haben wir ebenfalls schon früher ausgesprochen; daß aber <lb n="pvi_1443.025"/> der Humor gern in die Posse heruntergreift, die Keckheit seiner Weltverkehrung <lb n="pvi_1443.026"/> in ihre Form gießt und sie so zur Grotteske auftreibt, ist in §. 214 <lb n="pvi_1443.027"/> gezeigt.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1443.028"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 920.</hi> </p> <lb n="pvi_1443.029"/> <p> Dem Werthverhältnisse nach steht die Komödie insofern über der Tragödie, <lb n="pvi_1443.030"/> als sie freiere, in Gemüthsgleichheit über dem Gegenstand sich erhaltende Subjectivität <lb n="pvi_1443.031"/> fordert und das Erhabene, das den Jnhalt der Tragödie bildet, als <lb n="pvi_1443.032"/> das eine ihrer Momente mitumfaßt. Allein in dieser Stellung wird das Erhabene <lb n="pvi_1443.033"/> nur von einer Seite, der verständigen, beleuchtet und kommt nicht zur <lb n="pvi_1443.034"/> Entwicklung, die Gemüthsfreiheit aber ohne die Aufgabe, in der Gewalt der <lb n="pvi_1443.035"/> substantiellen Aufregung Stand zu halten, wird leicht zur Jnhaltslosigkeit oder <lb n="pvi_1443.036"/> zum grillenhaften Spiele der willkürlichen Subjectivität.</p> <lb n="pvi_1443.037"/> <p> <hi rendition="#et"> Man muß sich natürlich auch hier hüten, ein abstractes Verhältniß <lb n="pvi_1443.038"/> von Geringer und Besser anzunehmen, auch hier wohl bedenken, daß der <lb n="pvi_1443.039"/> Gewinn im Fortschritte zu einer reicheren Stufe immer zugleich Verlust ist. </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1443/0305]
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und davon handelt es sich, denn die Posse spielt eben wegen ihrer pvi_1443.002
Kürze nothwendig in dem Elemente der greiflichen Komik, des Burlesken, pvi_1443.003
und liebt denn bei aller Kunstform der Behandlung auch vorneherein in pvi_1443.004
der Fabel den Boden der sinnlichen Contraste. Jhr entspricht das Satyr= pvi_1443.005
Drama der Alten. Es war vom Volke gefordert, das sich die Lust des pvi_1443.006
Dionysos-Festes nicht ganz durch die Tragödie nehmen lassen wollte, sondern pvi_1443.007
eine Erholung von ihrem strengen Ernste bedurfte, und diese Bedeutung pvi_1443.008
hat auch die moderne Posse. Das Komische ist unendlich mehr, als bloße pvi_1443.009
Erholung, aber es ist doch wesentlich auch Erholung, und wenn der deutsche pvi_1443.010
Ernst es verschmäht, jener wehmüthigen Beruhigung, welche im Schlusse der pvi_1443.011
ächten Tragödie liegt, noch das derbe Gelächter folgen zu lassen, so mag er pvi_1443.012
doch dem leichteren französischen Blute darum, weil es solche Abspannung pvi_1443.013
liebt, so wenig zürnen, als dem griechischen.
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2. Jm Uebrigen kann der Unterschied der Hauptformen des Komischen pvi_1443.015
keine Eintheilung begründen; die verschiedenen Arten der Komödie, wie sie pvi_1443.016
sich uns nach andern Eintheilungsgründen ergeben haben, stellen sich sämmtlich pvi_1443.017
bald mehr auf diesen, bald mehr auf jenen Boden, und Bestimmteres pvi_1443.018
läßt sich nur so viel sagen, was übrigens schon in unsern frühern Erörterungen pvi_1443.019
mehrfach von selbst hervorgetreten ist: das Jntriguenspiel mit seinen pvi_1443.020
Schachzügen gehört mehr dem Witze, das Charakterspiel, nur nicht jenes, pvi_1443.021
das den Charakter typisch behandelt wie Moliere, dem Humor an. Daß pvi_1443.022
der hochkomische Styl, wie er sich bei Aristophanes mit dem politischen pvi_1443.023
Stoffe verbunden hat, im großartigen mythischen Wahnsinn seiner Fabel pvi_1443.024
humoristisch ist, haben wir ebenfalls schon früher ausgesprochen; daß aber pvi_1443.025
der Humor gern in die Posse heruntergreift, die Keckheit seiner Weltverkehrung pvi_1443.026
in ihre Form gießt und sie so zur Grotteske auftreibt, ist in §. 214 pvi_1443.027
gezeigt.
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§. 920.
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Dem Werthverhältnisse nach steht die Komödie insofern über der Tragödie, pvi_1443.030
als sie freiere, in Gemüthsgleichheit über dem Gegenstand sich erhaltende Subjectivität pvi_1443.031
fordert und das Erhabene, das den Jnhalt der Tragödie bildet, als pvi_1443.032
das eine ihrer Momente mitumfaßt. Allein in dieser Stellung wird das Erhabene pvi_1443.033
nur von einer Seite, der verständigen, beleuchtet und kommt nicht zur pvi_1443.034
Entwicklung, die Gemüthsfreiheit aber ohne die Aufgabe, in der Gewalt der pvi_1443.035
substantiellen Aufregung Stand zu halten, wird leicht zur Jnhaltslosigkeit oder pvi_1443.036
zum grillenhaften Spiele der willkürlichen Subjectivität.
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Man muß sich natürlich auch hier hüten, ein abstractes Verhältniß pvi_1443.038
von Geringer und Besser anzunehmen, auch hier wohl bedenken, daß der pvi_1443.039
Gewinn im Fortschritte zu einer reicheren Stufe immer zugleich Verlust ist.
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