Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1433.001 §. 916. pvi_1433.024Der Seite der Auffassung nach kann es im komischen Gebiete nicht pvi_1433.025 Es bedarf hier keiner besondern Bestimmung darüber, wie sich die pvi_1433.033
pvi_1433.001 §. 916. pvi_1433.024Der Seite der Auffassung nach kann es im komischen Gebiete nicht pvi_1433.025 Es bedarf hier keiner besondern Bestimmung darüber, wie sich die pvi_1433.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0295" n="1433"/><lb n="pvi_1433.001"/> aufsucht und dem Menschen in sein Geheimstes nachschleicht, dasselbe Motiv <lb n="pvi_1433.002"/> mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden lustig mit <lb n="pvi_1433.003"/> einer Heirath oder mehreren schließen. – Jn der Tragödie haben wir eine <lb n="pvi_1433.004"/> Form unterschieden, die auf sagenhaft heroischem Grunde ruht; in der <lb n="pvi_1433.005"/> Komödie kann von solch' großem Jnhalte nicht die Rede sein; zwar hat <lb n="pvi_1433.006"/> das Satyrspiel, zum Theil auch die griechische Komödie den komischen Keim, <lb n="pvi_1433.007"/> der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und <lb n="pvi_1433.008"/> Großen aber kann es nur die Verwendung mythischer Motive zu einer frei <lb n="pvi_1433.009"/> ersonnenen phantastischen Fabel sein, was der sagenhaft heroischen Tragödie <lb n="pvi_1433.010"/> logisch an die Seite zu stellen ist; dem griechischen Komiker diente die <lb n="pvi_1433.011"/> mythische Anschauungsform überhaupt, Alles zu personificiren und sich eine <lb n="pvi_1433.012"/> tolle Wunderwelt jenseits des Naturgesetzes zu schaffen; den neueren steht <lb n="pvi_1433.013"/> die Poesie des romantischen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die <lb n="pvi_1433.014"/> Elfen, den Zauber in heiterer Weise verwendet; er hat aber freie Hand, <lb n="pvi_1433.015"/> auch in den classischen Mythus zu greifen, ja diesen und den mittelalterlichen <lb n="pvi_1433.016"/> in humoristischer Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß <lb n="pvi_1433.017"/> wir hier aus der Eintheilung, wie sie sich zunächst rein auf den Stoff <lb n="pvi_1433.018"/> gründet, heraustreten: das Komische bringt es mit sich, daß das Gewicht <lb n="pvi_1433.019"/> sogleich auf die freie Willkür in Ausspinnung der durch Glauben und Sage <lb n="pvi_1433.020"/> gegebenen Motive fällt; da entsteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute <lb n="pvi_1433.021"/> Fabel noch zeitgemäß sei, und wenn, mit welchen Stoffen sie sich am naturgemäßesten <lb n="pvi_1433.022"/> verbinde u. s. w.: diese Frage gehört aber in andern Zusammenhang.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1433.023"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 916.</hi> </p> <lb n="pvi_1433.024"/> <p> Der <hi rendition="#g">Seite der Auffassung</hi> nach kann es im komischen Gebiete nicht <lb n="pvi_1433.025"/> einen ebenso bestimmten Unterschied von Prinzipien- und Charakterdrama geben, <lb n="pvi_1433.026"/> wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entscheidender Kraft ein anderer auf, <lb n="pvi_1433.027"/> der darin besteht, daß das Komische entweder aus den Charakteren oder dem <lb n="pvi_1433.028"/> Schicksale, d. h. hier, dem Spiele der List und des Zufalls, entwickelt wird: <lb n="pvi_1433.029"/> <hi rendition="#g">Charakter-</hi> und <hi rendition="#g">Jntriguen-Lustspiel.</hi> Jene Form ist die tiefere, diese <lb n="pvi_1433.030"/> mehr Sache des formellen, doch spezifischer dramatischen Talents; der Gegensatz soll <lb n="pvi_1433.031"/> nicht einseitig, sondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffassung sein.</p> <lb n="pvi_1433.032"/> <p> <hi rendition="#et"> Es bedarf hier keiner besondern Bestimmung darüber, wie sich die <lb n="pvi_1433.033"/> vorliegende Eintheilung zu der ersten verhält, denn es leuchtet ein, daß der <lb n="pvi_1433.034"/> eine oder andere Stoff nach Beschaffenheit oder Auffassung im Sinne der <lb n="pvi_1433.035"/> Charakter- oder Jntriguen-Komödie behandelt werden kann. Diese Unterscheidung <lb n="pvi_1433.036"/> ist es, welche im komischen Gebiete an die Stelle des Gegensatzes <lb n="pvi_1433.037"/> von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politische Komödie des <lb n="pvi_1433.038"/> Aristophanes und die moderne soziale kann zwar in entfernter Bedeutung <lb n="pvi_1433.039"/> Prinzipienkomödie heißen, da sie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1433/0295]
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aufsucht und dem Menschen in sein Geheimstes nachschleicht, dasselbe Motiv pvi_1433.002
mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden lustig mit pvi_1433.003
einer Heirath oder mehreren schließen. – Jn der Tragödie haben wir eine pvi_1433.004
Form unterschieden, die auf sagenhaft heroischem Grunde ruht; in der pvi_1433.005
Komödie kann von solch' großem Jnhalte nicht die Rede sein; zwar hat pvi_1433.006
das Satyrspiel, zum Theil auch die griechische Komödie den komischen Keim, pvi_1433.007
der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und pvi_1433.008
Großen aber kann es nur die Verwendung mythischer Motive zu einer frei pvi_1433.009
ersonnenen phantastischen Fabel sein, was der sagenhaft heroischen Tragödie pvi_1433.010
logisch an die Seite zu stellen ist; dem griechischen Komiker diente die pvi_1433.011
mythische Anschauungsform überhaupt, Alles zu personificiren und sich eine pvi_1433.012
tolle Wunderwelt jenseits des Naturgesetzes zu schaffen; den neueren steht pvi_1433.013
die Poesie des romantischen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die pvi_1433.014
Elfen, den Zauber in heiterer Weise verwendet; er hat aber freie Hand, pvi_1433.015
auch in den classischen Mythus zu greifen, ja diesen und den mittelalterlichen pvi_1433.016
in humoristischer Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß pvi_1433.017
wir hier aus der Eintheilung, wie sie sich zunächst rein auf den Stoff pvi_1433.018
gründet, heraustreten: das Komische bringt es mit sich, daß das Gewicht pvi_1433.019
sogleich auf die freie Willkür in Ausspinnung der durch Glauben und Sage pvi_1433.020
gegebenen Motive fällt; da entsteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute pvi_1433.021
Fabel noch zeitgemäß sei, und wenn, mit welchen Stoffen sie sich am naturgemäßesten pvi_1433.022
verbinde u. s. w.: diese Frage gehört aber in andern Zusammenhang.
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§. 916.
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Der Seite der Auffassung nach kann es im komischen Gebiete nicht pvi_1433.025
einen ebenso bestimmten Unterschied von Prinzipien- und Charakterdrama geben, pvi_1433.026
wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entscheidender Kraft ein anderer auf, pvi_1433.027
der darin besteht, daß das Komische entweder aus den Charakteren oder dem pvi_1433.028
Schicksale, d. h. hier, dem Spiele der List und des Zufalls, entwickelt wird: pvi_1433.029
Charakter- und Jntriguen-Lustspiel. Jene Form ist die tiefere, diese pvi_1433.030
mehr Sache des formellen, doch spezifischer dramatischen Talents; der Gegensatz soll pvi_1433.031
nicht einseitig, sondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffassung sein.
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Es bedarf hier keiner besondern Bestimmung darüber, wie sich die pvi_1433.033
vorliegende Eintheilung zu der ersten verhält, denn es leuchtet ein, daß der pvi_1433.034
eine oder andere Stoff nach Beschaffenheit oder Auffassung im Sinne der pvi_1433.035
Charakter- oder Jntriguen-Komödie behandelt werden kann. Diese Unterscheidung pvi_1433.036
ist es, welche im komischen Gebiete an die Stelle des Gegensatzes pvi_1433.037
von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politische Komödie des pvi_1433.038
Aristophanes und die moderne soziale kann zwar in entfernter Bedeutung pvi_1433.039
Prinzipienkomödie heißen, da sie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung
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