Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1432.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0294" n="1432"/><lb n="pvi_1432.001"/> so als große politische Narrheit auftritt. Darf man hoffen, daß eine solche <lb n="pvi_1432.002"/> Form wieder aufstehe, so ist es nur möglich in einem großen politischen <lb n="pvi_1432.003"/> Moment, etwa einer siegreichen Revolution, wo Alles politisch gestimmt ist, <lb n="pvi_1432.004"/> wo das Treiben der Besiegten als ein großartiger, tragikomischer Wahnsinn <lb n="pvi_1432.005"/> erscheint und wo der Sieger zugleich großmüthig und klar genug ist, sich <lb n="pvi_1432.006"/> selbst, seine Sünden und Schwächen mit in den Taumel des Humors zu <lb n="pvi_1432.007"/> werfen. So talentvolle Versuche wie die politische Wochenstube von Prutz <lb n="pvi_1432.008"/> sind ein Beweis, daß wenigstens den Deutschen die Ader nicht fehlt. Der <lb n="pvi_1432.009"/> größere Theil des Jnhalts in diesem Versuch ist allerdings literarische Satyre. <lb n="pvi_1432.010"/> Wir haben die <hi rendition="#g">Literatur</hi> nicht als Stoffquelle im §. aufgeführt; denn <lb n="pvi_1432.011"/> die unbedingte Popularität und Oeffentlichkeit, die Verwachsung mit dem <lb n="pvi_1432.012"/> politischen Leben, deren sie sich in Griechenland erfreute, kann nicht wiederkehren <lb n="pvi_1432.013"/> (vergl. Hettner D. moderne Drama 162); Komödien wie Tieck's <lb n="pvi_1432.014"/> gestiefelter Kater können daher in der neueren Zeit schon aus diesem Grunde <lb n="pvi_1432.015"/> nur Lesedramen für wohlbewanderte Kreise sein. – Die Sphäre der <hi rendition="#g">sozialen</hi> <lb n="pvi_1432.016"/> Komödie unterscheiden wir wie in der Eintheilung der Tragödie als die <lb n="pvi_1432.017"/> bürgerliche von der des eigentlichen Privatlebens: es handelt sich von Verkehrtheiten, <lb n="pvi_1432.018"/> welche durch bestimmte Einrichtungen, Gewohnheiten, Verhältnisse <lb n="pvi_1432.019"/> der Gesellschaft bleibend gegeben sind und aus welchen Typen entstehen, <lb n="pvi_1432.020"/> wie der Adelstolze, der bürgerliche Emporkömmling, der Heuchler (Tartuffe), <lb n="pvi_1432.021"/> der Charlatan, der Büreaukrat, der Philister, der geplagte Ehemann u. s. w. <lb n="pvi_1432.022"/> Das Gebiet liegt innerhalb des nicht politischen Stoffkreises zunächst an <lb n="pvi_1432.023"/> der Grenze des letzteren und nimmt historisch=politische Zustände gern zum <lb n="pvi_1432.024"/> Hintergrund. Man kann allgemeiner sagen, die Komödie lege es oft mehr <lb n="pvi_1432.025"/> auf ein Bild der gegebenen Zustände, der <hi rendition="#g">Sitte,</hi> als der besondern Fabel <lb n="pvi_1432.026"/> an, und die unbestimmte Masse, die unter diesen Standpunct fällt, zur <lb n="pvi_1432.027"/> sozialen Komödie rechnen. Spielt ein solches Stück in der feineren Gesellschaft, <lb n="pvi_1432.028"/> so ist es sehr natürlich, daß sich die Handlung an dem Faden der <lb n="pvi_1432.029"/> geistreichen, witzigen, beweglichen Conversation verläuft und das Hauptabsehen <lb n="pvi_1432.030"/> sich auf diese richtet: das <hi rendition="#g">Conversationslustspiel,</hi> worin begreiflich <lb n="pvi_1432.031"/> die Franzosen ihre Hauptstärke haben. – Das Lustspiel des gemeinen <lb n="pvi_1432.032"/> <hi rendition="#g">Privatlebens</hi> lehnt sich wohl an Verhältnisse und Sitten, nimmt <lb n="pvi_1432.033"/> aber sein Motiv nicht aus den chronischen Verhärtungen, welche hier eine <lb n="pvi_1432.034"/> Welt des Unbequemen und Verkehrten hervorbringen, sondern aus der <lb n="pvi_1432.035"/> menschlichen Natur wie sie an sich und jederzeit beschaffen, zu bestimmten <lb n="pvi_1432.036"/> Leidenschaften, Verirrungen geneigt ist und in unendliche Collisionen mit <lb n="pvi_1432.037"/> der Wirklichkeit geräth. Daß die <hi rendition="#g">Liebe</hi> in beiden Sphären die Hauptrolle <lb n="pvi_1432.038"/> spielt, bedarf nach den Andeutungen des §. 322 keiner weiteren Erklärung; <lb n="pvi_1432.039"/> knüpfen sich im modernen Jdeale die Metamorphosen der sich entwickelnden <lb n="pvi_1432.040"/> Persönlichkeit im ernsten Sinn an diese innigste Genugthuung der Subjectivität, <lb n="pvi_1432.041"/> so wird die Parodie des Ernstes, die wesentlich das Subjective </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1432/0294]
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so als große politische Narrheit auftritt. Darf man hoffen, daß eine solche pvi_1432.002
Form wieder aufstehe, so ist es nur möglich in einem großen politischen pvi_1432.003
Moment, etwa einer siegreichen Revolution, wo Alles politisch gestimmt ist, pvi_1432.004
wo das Treiben der Besiegten als ein großartiger, tragikomischer Wahnsinn pvi_1432.005
erscheint und wo der Sieger zugleich großmüthig und klar genug ist, sich pvi_1432.006
selbst, seine Sünden und Schwächen mit in den Taumel des Humors zu pvi_1432.007
werfen. So talentvolle Versuche wie die politische Wochenstube von Prutz pvi_1432.008
sind ein Beweis, daß wenigstens den Deutschen die Ader nicht fehlt. Der pvi_1432.009
größere Theil des Jnhalts in diesem Versuch ist allerdings literarische Satyre. pvi_1432.010
Wir haben die Literatur nicht als Stoffquelle im §. aufgeführt; denn pvi_1432.011
die unbedingte Popularität und Oeffentlichkeit, die Verwachsung mit dem pvi_1432.012
politischen Leben, deren sie sich in Griechenland erfreute, kann nicht wiederkehren pvi_1432.013
(vergl. Hettner D. moderne Drama 162); Komödien wie Tieck's pvi_1432.014
gestiefelter Kater können daher in der neueren Zeit schon aus diesem Grunde pvi_1432.015
nur Lesedramen für wohlbewanderte Kreise sein. – Die Sphäre der sozialen pvi_1432.016
Komödie unterscheiden wir wie in der Eintheilung der Tragödie als die pvi_1432.017
bürgerliche von der des eigentlichen Privatlebens: es handelt sich von Verkehrtheiten, pvi_1432.018
welche durch bestimmte Einrichtungen, Gewohnheiten, Verhältnisse pvi_1432.019
der Gesellschaft bleibend gegeben sind und aus welchen Typen entstehen, pvi_1432.020
wie der Adelstolze, der bürgerliche Emporkömmling, der Heuchler (Tartuffe), pvi_1432.021
der Charlatan, der Büreaukrat, der Philister, der geplagte Ehemann u. s. w. pvi_1432.022
Das Gebiet liegt innerhalb des nicht politischen Stoffkreises zunächst an pvi_1432.023
der Grenze des letzteren und nimmt historisch=politische Zustände gern zum pvi_1432.024
Hintergrund. Man kann allgemeiner sagen, die Komödie lege es oft mehr pvi_1432.025
auf ein Bild der gegebenen Zustände, der Sitte, als der besondern Fabel pvi_1432.026
an, und die unbestimmte Masse, die unter diesen Standpunct fällt, zur pvi_1432.027
sozialen Komödie rechnen. Spielt ein solches Stück in der feineren Gesellschaft, pvi_1432.028
so ist es sehr natürlich, daß sich die Handlung an dem Faden der pvi_1432.029
geistreichen, witzigen, beweglichen Conversation verläuft und das Hauptabsehen pvi_1432.030
sich auf diese richtet: das Conversationslustspiel, worin begreiflich pvi_1432.031
die Franzosen ihre Hauptstärke haben. – Das Lustspiel des gemeinen pvi_1432.032
Privatlebens lehnt sich wohl an Verhältnisse und Sitten, nimmt pvi_1432.033
aber sein Motiv nicht aus den chronischen Verhärtungen, welche hier eine pvi_1432.034
Welt des Unbequemen und Verkehrten hervorbringen, sondern aus der pvi_1432.035
menschlichen Natur wie sie an sich und jederzeit beschaffen, zu bestimmten pvi_1432.036
Leidenschaften, Verirrungen geneigt ist und in unendliche Collisionen mit pvi_1432.037
der Wirklichkeit geräth. Daß die Liebe in beiden Sphären die Hauptrolle pvi_1432.038
spielt, bedarf nach den Andeutungen des §. 322 keiner weiteren Erklärung; pvi_1432.039
knüpfen sich im modernen Jdeale die Metamorphosen der sich entwickelnden pvi_1432.040
Persönlichkeit im ernsten Sinn an diese innigste Genugthuung der Subjectivität, pvi_1432.041
so wird die Parodie des Ernstes, die wesentlich das Subjective
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