Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1418.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0280" n="1418"/><lb n="pvi_1418.001"/> sichern, jeden Schein abschneiden, als gelte es im Tragischen blos der Erhabenheit <lb n="pvi_1418.002"/> des menschlichen Subjects; er erkannte nicht, daß die absolute <lb n="pvi_1418.003"/> Erhabenheit des Schicksals sich nur vertieft, wenn es als immanentes <lb n="pvi_1418.004"/> Gesetz aus den Charakteren und der Handlung entwickelt wird, aber nach <lb n="pvi_1418.005"/> jener Seite ist doch Wahrheit und wirkliche Größe in seiner Schicksals-Jdee; <lb n="pvi_1418.006"/> bei einem Müllner und Grillparzer schlug diese in's Lächerliche um. – <lb n="pvi_1418.007"/> Wir erwarten noch den classisch gereinigten deutschen Shakespeare. Eine <lb n="pvi_1418.008"/> absolute Vereinigung der Stylgegensätze gibt es freilich nicht, soll es nicht <lb n="pvi_1418.009"/> geben, die Geschichte der Kunst ist ja gerade die Geschichte ihres Kampfes <lb n="pvi_1418.010"/> und wir haben hier ihre Beleuchtung vorangeschickt, um darauf einen bleibenden <lb n="pvi_1418.011"/> Unterschied zu gründen, der sich durch die folgenden stehenden Eintheilungen <lb n="pvi_1418.012"/> hindurchzieht; aber ein relativ Höchstes der Vereinigung mit <lb n="pvi_1418.013"/> reicher Umgebung von Modificationen und Mischungsverhältnissen muß der <lb n="pvi_1418.014"/> Begriff sein, nach welchem wir steuern. Keiner Nationalität kann diese <lb n="pvi_1418.015"/> Aufgabe so gesetzt sein, wie der germanischen; ihr angelsächsischer Stamm, <lb n="pvi_1418.016"/> in England mit dem feurigeren normannischen gemischt, hat das wunderbare, <lb n="pvi_1418.017"/> aber noch mit nordischer Formlosigkeit behaftete Muster in Shakespeare <lb n="pvi_1418.018"/> dem deutschen hingestellt, das er mit dem andern ewigen Muster, dem classischen, <lb n="pvi_1418.019"/> zusammenfassen soll. – Das Drama der <hi rendition="#g">romanischen</hi> Völker nun <lb n="pvi_1418.020"/> stellt ein überleitendes Band zwischen dem letzteren und der ganzen Aufgabe <lb n="pvi_1418.021"/> dar. Sie hängen durch Abstammung und Cultur alle noch in der classischen <lb n="pvi_1418.022"/> Tradition, so verschieden sie dieselbe durch ihre Besonderheit und <lb n="pvi_1418.023"/> moderne Bildung auch gefärbt haben, und das entscheidende Zeichen davon <lb n="pvi_1418.024"/> ist, daß sie Shakespeare mit seinen Contrasten im tief individuell gesättigten <lb n="pvi_1418.025"/> Style niemals ganz verstanden haben, verstehen können. Das spanische <lb n="pvi_1418.026"/> Drama stellt seine Menschen, die durchaus mehr Stände, Temperamente, <lb n="pvi_1418.027"/> Leidenschaften, als Jndividuen sind, unter die Wunder eines Himmels, zu <lb n="pvi_1418.028"/> dem sie sich durch das Aufgeben dessen, was eben den wirklichen Jnhalt <lb n="pvi_1418.029"/> des Charakters und Drama's ausmacht, in mystischer Auflösung erheben <lb n="pvi_1418.030"/> sollen, oder spannt sie, in der weltlichen Sphäre, in einen Codex conventioneller <lb n="pvi_1418.031"/> Begriffe der Ehre, Liebe, Ergebung des Unterthanen ein, der die <lb n="pvi_1418.032"/> leidenschaftlichsten Conflicte zur Folge hat, aber der concreten menschlichen <lb n="pvi_1418.033"/> Wahrheit entbehrt. Dieses Drama ist in all seiner Pracht eine Spezialität, <lb n="pvi_1418.034"/> der antiken Anschauung aber verwandt durch den Charakter des Gegebenen <lb n="pvi_1418.035"/> und Vorausgesetzten, den, wie dort das Schicksal, hier die Welt hat, in <lb n="pvi_1418.036"/> die der dramatische Mensch gestellt wird, und durch die, obwohl farbigere, <lb n="pvi_1418.037"/> doch typische Behandlung seiner Persönlichkeit. Das französische Drama <lb n="pvi_1418.038"/> nannte sich in der Blüthezeit selbst das classische. Seinem innern Geiste <lb n="pvi_1418.039"/> nach, dem Geiste der Hof-Etikette, der kalten rhetorischen Antithesen war <lb n="pvi_1418.040"/> es dem Classischen so fremd, als möglich, und doch durch seine negativen <lb n="pvi_1418.041"/> Eigenschaften dem formlosen Geiste des Nordens eine Schule der Zucht </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1418/0280]
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sichern, jeden Schein abschneiden, als gelte es im Tragischen blos der Erhabenheit pvi_1418.002
des menschlichen Subjects; er erkannte nicht, daß die absolute pvi_1418.003
Erhabenheit des Schicksals sich nur vertieft, wenn es als immanentes pvi_1418.004
Gesetz aus den Charakteren und der Handlung entwickelt wird, aber nach pvi_1418.005
jener Seite ist doch Wahrheit und wirkliche Größe in seiner Schicksals-Jdee; pvi_1418.006
bei einem Müllner und Grillparzer schlug diese in's Lächerliche um. – pvi_1418.007
Wir erwarten noch den classisch gereinigten deutschen Shakespeare. Eine pvi_1418.008
absolute Vereinigung der Stylgegensätze gibt es freilich nicht, soll es nicht pvi_1418.009
geben, die Geschichte der Kunst ist ja gerade die Geschichte ihres Kampfes pvi_1418.010
und wir haben hier ihre Beleuchtung vorangeschickt, um darauf einen bleibenden pvi_1418.011
Unterschied zu gründen, der sich durch die folgenden stehenden Eintheilungen pvi_1418.012
hindurchzieht; aber ein relativ Höchstes der Vereinigung mit pvi_1418.013
reicher Umgebung von Modificationen und Mischungsverhältnissen muß der pvi_1418.014
Begriff sein, nach welchem wir steuern. Keiner Nationalität kann diese pvi_1418.015
Aufgabe so gesetzt sein, wie der germanischen; ihr angelsächsischer Stamm, pvi_1418.016
in England mit dem feurigeren normannischen gemischt, hat das wunderbare, pvi_1418.017
aber noch mit nordischer Formlosigkeit behaftete Muster in Shakespeare pvi_1418.018
dem deutschen hingestellt, das er mit dem andern ewigen Muster, dem classischen, pvi_1418.019
zusammenfassen soll. – Das Drama der romanischen Völker nun pvi_1418.020
stellt ein überleitendes Band zwischen dem letzteren und der ganzen Aufgabe pvi_1418.021
dar. Sie hängen durch Abstammung und Cultur alle noch in der classischen pvi_1418.022
Tradition, so verschieden sie dieselbe durch ihre Besonderheit und pvi_1418.023
moderne Bildung auch gefärbt haben, und das entscheidende Zeichen davon pvi_1418.024
ist, daß sie Shakespeare mit seinen Contrasten im tief individuell gesättigten pvi_1418.025
Style niemals ganz verstanden haben, verstehen können. Das spanische pvi_1418.026
Drama stellt seine Menschen, die durchaus mehr Stände, Temperamente, pvi_1418.027
Leidenschaften, als Jndividuen sind, unter die Wunder eines Himmels, zu pvi_1418.028
dem sie sich durch das Aufgeben dessen, was eben den wirklichen Jnhalt pvi_1418.029
des Charakters und Drama's ausmacht, in mystischer Auflösung erheben pvi_1418.030
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Begriffe der Ehre, Liebe, Ergebung des Unterthanen ein, der die pvi_1418.032
leidenschaftlichsten Conflicte zur Folge hat, aber der concreten menschlichen pvi_1418.033
Wahrheit entbehrt. Dieses Drama ist in all seiner Pracht eine Spezialität, pvi_1418.034
der antiken Anschauung aber verwandt durch den Charakter des Gegebenen pvi_1418.035
und Vorausgesetzten, den, wie dort das Schicksal, hier die Welt hat, in pvi_1418.036
die der dramatische Mensch gestellt wird, und durch die, obwohl farbigere, pvi_1418.037
doch typische Behandlung seiner Persönlichkeit. Das französische Drama pvi_1418.038
nannte sich in der Blüthezeit selbst das classische. Seinem innern Geiste pvi_1418.039
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es dem Classischen so fremd, als möglich, und doch durch seine negativen pvi_1418.041
Eigenschaften dem formlosen Geiste des Nordens eine Schule der Zucht
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