Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1402.001 Der §. enthält nichts von cyclischen Compositionen, weil über eine pvi_1402.018
pvi_1402.001 Der §. enthält nichts von cyclischen Compositionen, weil über eine pvi_1402.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0264" n="1402"/><lb n="pvi_1402.001"/> ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig ist die Frage über die <lb n="pvi_1402.002"/> letzten Scenen, sofern dabei das Compositionsgesetz der schließlichen festen <lb n="pvi_1402.003"/> Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefsten Zusammenhang mit dem Jnhalte <lb n="pvi_1402.004"/> zur Anwendung kommt. Es handelt sich im Tragischen darum, wie weit <lb n="pvi_1402.005"/> der Dichter uns eine Aussicht eröffnen will, die uns mit der Härte des <lb n="pvi_1402.006"/> Schicksals versöhnt. Diese Aussicht darf nicht zu entwickelt sein, wenn sie <lb n="pvi_1402.007"/> nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen <lb n="pvi_1402.008"/> und überdieß in die Breite des Empirischen, das neben dem idealen Ausschnitte <lb n="pvi_1402.009"/> des Drama's eigentlich nicht existirt, ablenken soll; sie darf nicht <lb n="pvi_1402.010"/> fehlen, wie am Schlusse vom Don Carlos und in großen Schicksals= und <lb n="pvi_1402.011"/> Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat <lb n="pvi_1402.012"/> das Maaß am richtigsten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut <lb n="pvi_1402.013"/> thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich <lb n="pvi_1402.014"/> wegzulassen, sind für dieses Moment der Composition sehr belehrend. Unterlassung <lb n="pvi_1402.015"/> oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem so <lb n="pvi_1402.016"/> höchst concisen Kunstwerke wie das Drama viel verderben.</hi> </p> <lb n="pvi_1402.017"/> <p> <hi rendition="#et"> Der §. enthält nichts von <hi rendition="#g">cyclischen</hi> Compositionen, weil über eine <lb n="pvi_1402.018"/> zweifelhafte und wirklich unwesentliche Seite in Kürze nichts Positives aufzustellen <lb n="pvi_1402.019"/> ist. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke <lb n="pvi_1402.020"/> an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch sind die Glieder <lb n="pvi_1402.021"/> derselben, die sich wie Exposition, Verwicklung, Katastrophe im einzelnen <lb n="pvi_1402.022"/> Drama verhalten, ebensosehr selbständige, in sich abgeschlossene Dramen. <lb n="pvi_1402.023"/> Den innern Zusammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem <lb n="pvi_1402.024"/> Bewußtsein gegenwärtig. Die neuere Dichtung ist schon durch die, auf <lb n="pvi_1402.025"/> anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewiesen, Trilogieen <lb n="pvi_1402.026"/> zu vermeiden; denn die Aufführung müssen wir, obwohl wir sie jetzt noch <lb n="pvi_1402.027"/> nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken, <lb n="pvi_1402.028"/> daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zusammenhang im <lb n="pvi_1402.029"/> Bewußtsein der Zuschauer zerschneidet. Das einzelne Stück müßte um so <lb n="pvi_1402.030"/> selbständiger abgeschlossen sein, in demselben Grade lockert sich aber der <lb n="pvi_1402.031"/> organische Zusammenhang mit den andern. Jn Schiller's, – wenn man <lb n="pvi_1402.032"/> sie so nennen kann, – Trilogie des Wallenstein ist das Lager ein genreartiges <lb n="pvi_1402.033"/> Vorspiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abschluß. – <lb n="pvi_1402.034"/> Ein großartiges Beispiel eines umfassenderen, auf gewichtigen historischen <lb n="pvi_1402.035"/> Stoff und tiefen Schicksals-Zusammenhang gegründeten Cyclus geben <lb n="pvi_1402.036"/> Shakespeare's englische Dramen. Dieses Jugendwerk Shakespeare's (das <lb n="pvi_1402.037"/> z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke besteht) leidet unläugbar <lb n="pvi_1402.038"/> an chronikalisch=epischer Behandlung, man wird aber darum noch nicht behaupten <lb n="pvi_1402.039"/> können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich gewesen, mit <lb n="pvi_1402.040"/> strengerer Ausscheidung des Stoffartigen eine Reihe cyclischer Dramen aus <lb n="pvi_1402.041"/> dieser Epoche der englischen Geschichte zu bilden. Jn der That kann es </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1402/0264]
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ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig ist die Frage über die pvi_1402.002
letzten Scenen, sofern dabei das Compositionsgesetz der schließlichen festen pvi_1402.003
Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefsten Zusammenhang mit dem Jnhalte pvi_1402.004
zur Anwendung kommt. Es handelt sich im Tragischen darum, wie weit pvi_1402.005
der Dichter uns eine Aussicht eröffnen will, die uns mit der Härte des pvi_1402.006
Schicksals versöhnt. Diese Aussicht darf nicht zu entwickelt sein, wenn sie pvi_1402.007
nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen pvi_1402.008
und überdieß in die Breite des Empirischen, das neben dem idealen Ausschnitte pvi_1402.009
des Drama's eigentlich nicht existirt, ablenken soll; sie darf nicht pvi_1402.010
fehlen, wie am Schlusse vom Don Carlos und in großen Schicksals= und pvi_1402.011
Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat pvi_1402.012
das Maaß am richtigsten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut pvi_1402.013
thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich pvi_1402.014
wegzulassen, sind für dieses Moment der Composition sehr belehrend. Unterlassung pvi_1402.015
oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem so pvi_1402.016
höchst concisen Kunstwerke wie das Drama viel verderben.
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Der §. enthält nichts von cyclischen Compositionen, weil über eine pvi_1402.018
zweifelhafte und wirklich unwesentliche Seite in Kürze nichts Positives aufzustellen pvi_1402.019
ist. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke pvi_1402.020
an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch sind die Glieder pvi_1402.021
derselben, die sich wie Exposition, Verwicklung, Katastrophe im einzelnen pvi_1402.022
Drama verhalten, ebensosehr selbständige, in sich abgeschlossene Dramen. pvi_1402.023
Den innern Zusammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem pvi_1402.024
Bewußtsein gegenwärtig. Die neuere Dichtung ist schon durch die, auf pvi_1402.025
anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewiesen, Trilogieen pvi_1402.026
zu vermeiden; denn die Aufführung müssen wir, obwohl wir sie jetzt noch pvi_1402.027
nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken, pvi_1402.028
daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zusammenhang im pvi_1402.029
Bewußtsein der Zuschauer zerschneidet. Das einzelne Stück müßte um so pvi_1402.030
selbständiger abgeschlossen sein, in demselben Grade lockert sich aber der pvi_1402.031
organische Zusammenhang mit den andern. Jn Schiller's, – wenn man pvi_1402.032
sie so nennen kann, – Trilogie des Wallenstein ist das Lager ein genreartiges pvi_1402.033
Vorspiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abschluß. – pvi_1402.034
Ein großartiges Beispiel eines umfassenderen, auf gewichtigen historischen pvi_1402.035
Stoff und tiefen Schicksals-Zusammenhang gegründeten Cyclus geben pvi_1402.036
Shakespeare's englische Dramen. Dieses Jugendwerk Shakespeare's (das pvi_1402.037
z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke besteht) leidet unläugbar pvi_1402.038
an chronikalisch=epischer Behandlung, man wird aber darum noch nicht behaupten pvi_1402.039
können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich gewesen, mit pvi_1402.040
strengerer Ausscheidung des Stoffartigen eine Reihe cyclischer Dramen aus pvi_1402.041
dieser Epoche der englischen Geschichte zu bilden. Jn der That kann es
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