Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1394.001 §. 902. pvi_1394.035Jn keinem Kunstwerke hat die Composition so hohe Bedeutung wie pvi_1394.036
pvi_1394.001 §. 902. pvi_1394.035Jn keinem Kunstwerke hat die Composition so hohe Bedeutung wie pvi_1394.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0256" n="1394"/><lb n="pvi_1394.001"/> Styl eigen sind. Wir haben schon zu jenem §. bemerkt, daß die <lb n="pvi_1394.002"/> griechischen Tragiker reich sind an solchen wie aus traumhaft dunklem Grunde <lb n="pvi_1394.003"/> seltsam aufglühenden Bildern, die an Shakespeare erinnern. Die feurig <lb n="pvi_1394.004"/> bewegte Stimmung des Drama wühlt die Phantasie leidenschaftlicher auf, der <lb n="pvi_1394.005"/> spannende Gang läßt keine Zeit, das Bild zu begründen, zu rechtfertigen, es <lb n="pvi_1394.006"/> muß schlagartig wirken, zuerst befremden, dann wie in Blitz beleuchten, überzeugen. <lb n="pvi_1394.007"/> – Es ist der geniale Takt der Griechen, der sie führte, den <hi rendition="#g">Jambus</hi> <lb n="pvi_1394.008"/> als dramatischen Vers auszubilden. Wie ganz sein Charakter der dramatischen <lb n="pvi_1394.009"/> Bewegung entspricht und wie der Trochäus der Spanier eine aus <lb n="pvi_1394.010"/> Feierlichkeit und lyrischem Verhauchen gemischte, undramatische Stimmung mit <lb n="pvi_1394.011"/> sich führt, ist schon im Abschnitte von der Rhythmik gesagt. Die längere, breitspurigere <lb n="pvi_1394.012"/> Bahn des Trimeter im Unterschiede von der kürzeren des fünffüßigen <lb n="pvi_1394.013"/> Jambus im neueren Drama bezeichnet aber auch nach dieser Seite den <lb n="pvi_1394.014"/> Gegensatz der Style. Färbung und Belebung durch Zwischenklang anderer <lb n="pvi_1394.015"/> Metren (Anapäste und Spondäen), durch einen Kampf von Wort= und <lb n="pvi_1394.016"/> Vers-Accent, durch die Wechsel des Verhältnisses zwischen Wortfuß und <lb n="pvi_1394.017"/> Versfuß fehlt natürlich auch dem Jambus nicht; daß er im classischen <lb n="pvi_1394.018"/> Drama von lyrischen Strophen unterbrochen wird, gehört nur soweit hieher, <lb n="pvi_1394.019"/> als die Einflechtung von Reimen im modernen Drama als Ausdruck durchbrechender <lb n="pvi_1394.020"/> lyrischer Stimmung, der freilich sparsam sein soll, diesem Formwechsel <lb n="pvi_1394.021"/> ungefähr entspricht. Durchherrschender Reim, wie z. B. in Göthe's <lb n="pvi_1394.022"/> Faust, kann nur für die Spezialität eines Drama gerechtfertigt werden, <lb n="pvi_1394.023"/> das sich in innerliche Tiefen versenkt, die von der Dicht-Art im Ganzen <lb n="pvi_1394.024"/> mit Recht vermieden werden, daneben aber das Phantastische und Naturalistische <lb n="pvi_1394.025"/> walten läßt. Der Gebrauch der Prosa hängt mit dem Styl-Unterschiede <lb n="pvi_1394.026"/> zusammen, den wir erst im Folgenden aufnehmen. Jm hohen Drama <lb n="pvi_1394.027"/> wird er da begründet sein, wo eine grasse Wirklichkeit durchbricht, wie im <lb n="pvi_1394.028"/> Makbeth, wo die Lady als Nachtwandlerinn auftritt, im Faust nach den <lb n="pvi_1394.029"/> Blocksbergscenen, wo der Held das Schicksal Margaretens erfahren hat und, <lb n="pvi_1394.030"/> nachdem ihm die Augen so fürchterlich aufgegangen, dem Mephistopheles <lb n="pvi_1394.031"/> die wilden Vorwürfe macht. Komische Einschiebungen werden ebenfalls <lb n="pvi_1394.032"/> passend in prosaischer Sprache reden, dieß entspricht der Natur des Komischen, <lb n="pvi_1394.033"/> obwohl es nicht nothwendig durch sie gefordert ist.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1394.034"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 902.</hi> </p> <lb n="pvi_1394.035"/> <p> Jn keinem Kunstwerke hat die <hi rendition="#g">Composition</hi> so hohe Bedeutung wie <lb n="pvi_1394.036"/> im dramatischen. Die <hi rendition="#g">Zeit</hi> und den <hi rendition="#g">Raum,</hi> in die sie ihre Handlung setzt, <lb n="pvi_1394.037"/> idealisirt sie im Sinne der Zusammenziehung und des gemäßigt freien Wechsels. <lb n="pvi_1394.038"/> Die Handlung selbst beherrscht durch strenge <hi rendition="#g">Einheit</hi> die ihr untergeordnete, <lb n="pvi_1394.039"/> sparsame Vielheit von einzelnen Handlungen, worin die Episode nur die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1394/0256]
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Styl eigen sind. Wir haben schon zu jenem §. bemerkt, daß die pvi_1394.002
griechischen Tragiker reich sind an solchen wie aus traumhaft dunklem Grunde pvi_1394.003
seltsam aufglühenden Bildern, die an Shakespeare erinnern. Die feurig pvi_1394.004
bewegte Stimmung des Drama wühlt die Phantasie leidenschaftlicher auf, der pvi_1394.005
spannende Gang läßt keine Zeit, das Bild zu begründen, zu rechtfertigen, es pvi_1394.006
muß schlagartig wirken, zuerst befremden, dann wie in Blitz beleuchten, überzeugen. pvi_1394.007
– Es ist der geniale Takt der Griechen, der sie führte, den Jambus pvi_1394.008
als dramatischen Vers auszubilden. Wie ganz sein Charakter der dramatischen pvi_1394.009
Bewegung entspricht und wie der Trochäus der Spanier eine aus pvi_1394.010
Feierlichkeit und lyrischem Verhauchen gemischte, undramatische Stimmung mit pvi_1394.011
sich führt, ist schon im Abschnitte von der Rhythmik gesagt. Die längere, breitspurigere pvi_1394.012
Bahn des Trimeter im Unterschiede von der kürzeren des fünffüßigen pvi_1394.013
Jambus im neueren Drama bezeichnet aber auch nach dieser Seite den pvi_1394.014
Gegensatz der Style. Färbung und Belebung durch Zwischenklang anderer pvi_1394.015
Metren (Anapäste und Spondäen), durch einen Kampf von Wort= und pvi_1394.016
Vers-Accent, durch die Wechsel des Verhältnisses zwischen Wortfuß und pvi_1394.017
Versfuß fehlt natürlich auch dem Jambus nicht; daß er im classischen pvi_1394.018
Drama von lyrischen Strophen unterbrochen wird, gehört nur soweit hieher, pvi_1394.019
als die Einflechtung von Reimen im modernen Drama als Ausdruck durchbrechender pvi_1394.020
lyrischer Stimmung, der freilich sparsam sein soll, diesem Formwechsel pvi_1394.021
ungefähr entspricht. Durchherrschender Reim, wie z. B. in Göthe's pvi_1394.022
Faust, kann nur für die Spezialität eines Drama gerechtfertigt werden, pvi_1394.023
das sich in innerliche Tiefen versenkt, die von der Dicht-Art im Ganzen pvi_1394.024
mit Recht vermieden werden, daneben aber das Phantastische und Naturalistische pvi_1394.025
walten läßt. Der Gebrauch der Prosa hängt mit dem Styl-Unterschiede pvi_1394.026
zusammen, den wir erst im Folgenden aufnehmen. Jm hohen Drama pvi_1394.027
wird er da begründet sein, wo eine grasse Wirklichkeit durchbricht, wie im pvi_1394.028
Makbeth, wo die Lady als Nachtwandlerinn auftritt, im Faust nach den pvi_1394.029
Blocksbergscenen, wo der Held das Schicksal Margaretens erfahren hat und, pvi_1394.030
nachdem ihm die Augen so fürchterlich aufgegangen, dem Mephistopheles pvi_1394.031
die wilden Vorwürfe macht. Komische Einschiebungen werden ebenfalls pvi_1394.032
passend in prosaischer Sprache reden, dieß entspricht der Natur des Komischen, pvi_1394.033
obwohl es nicht nothwendig durch sie gefordert ist.
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§. 902.
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Jn keinem Kunstwerke hat die Composition so hohe Bedeutung wie pvi_1394.036
im dramatischen. Die Zeit und den Raum, in die sie ihre Handlung setzt, pvi_1394.037
idealisirt sie im Sinne der Zusammenziehung und des gemäßigt freien Wechsels. pvi_1394.038
Die Handlung selbst beherrscht durch strenge Einheit die ihr untergeordnete, pvi_1394.039
sparsame Vielheit von einzelnen Handlungen, worin die Episode nur die
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