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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Thränen", in den beiden: "Wanderers Nachtlied" und "ein Gleiches (Ueber pvi_1356.002
allen Gipfeln ist Ruh' u. s. w.)", wie in jenen Liedern, die wir als Grundtypen pvi_1356.003
lyrischen Charakters in §. 885 und 886 näher betrachtet haben, solches pvi_1356.004
dämmernde Beschleichen wie in Jägers Abendlied oder "An den Mond" haben pvi_1356.005
ähnlich nur die Engländer und Schotten aufzuweisen in dem eigenthümlich pvi_1356.006
beflorten, wie in Nebeln verzitternden Tone, der aus ihrem Volkslied in die pvi_1356.007
neuere Kunstpoesie Byron's, Moore's, Shelley's, Burn's, Campbell's und pvi_1356.008
der Dichter der sog. Seeschule übergegangen ist. Man kann namentlich hier pvi_1356.009
die ergreifende Wirkung des Refrains erkennen, denn er ist der brittischen pvi_1356.010
und schottischen Poesie besonders eigen. - Wir haben uns hier nicht ausdrücklich pvi_1356.011
über das Mittelalter ausgesprochen: nicht als hätten wir vergessen, pvi_1356.012
daß seine Phantasie vorherrschend die empfindende war; aber die ganze pvi_1356.013
Bildungsform war doch noch so weit episch, daß dieser Zweig überwog pvi_1356.014
und das Lyrische, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, sich in ihn pvi_1356.015
warf. Zugleich war es allerdings die wirkliche Lyrik, worin die Knospe pvi_1356.016
des neu aufgegangenen Gemüthslebens sich erschloß; die Minnepoesie, aus pvi_1356.017
dem älteren Volkslied hervorgegangen, ist eine Erscheinung voll Lieblichkeit, pvi_1356.018
allein sie wird bald monoton durch die Wiederkehr desselben Jnhalts, conventionell pvi_1356.019
in dem methodisirten Cultus der Frauen und des Frühlings und pvi_1356.020
die kunstreiche Form leitet, wie schon früher bemerkt wurde, alsgemach die pvi_1356.021
Jnnigkeit der Stimmung nach der Seite des Gefäßes ab. Hier erkennt pvi_1356.022
man, daß das Bewußtsein des Mittelalters zu weltlos arm, noch zu wenig pvi_1356.023
von vielseitigen Beziehungen des Lebens geschüttelt war, und ein Walter pvi_1356.024
von der Vogelweide steht an Reichthum der Persönlichkeit und ihrer Jnteressen pvi_1356.025
für die reale Welt fast einzig da; das Volk, trotzdem, daß sein inneres pvi_1356.026
Leben noch einfacher sein mußte, als das des ritterlichen Standes, war doch pvi_1356.027
in unbefangnerem Verkehr mit der Wirklichkeit, als dieser, den der Geist der pvi_1356.028
Kaste abschloß, und was seinem Seelenleben an Reichthum der Saiten fehlte, pvi_1356.029
ersetzte die Frische und Fülle der Reize, die von jener ausgiengen. Wie daher pvi_1356.030
die Minnepoesie aus der Volkspoesie herkommt, so muß sie, nachdem sie pvi_1356.031
sich in Künstlichkeit ausgelebt, der letzteren wieder weichen, denn der Geist pvi_1356.032
des Volkes ist inzwischen, gegen das Ende des Mittelalters, ungleich pvi_1356.033
erfahrungsreicher und aufgeweckter geworden und am Ende des fünfzehnten, pvi_1356.034
Anfang des sechszehnten Jahrhunderts tritt die herrliche Blüthe des Volkslieds pvi_1356.035
ein, auf dessen bestimmtere Auffassung wir längst hingeleitet sind.

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2. Der Unterschied der Volks- und Kunstpoesie ist schon in §. 519 pvi_1356.037
aufgestellt. Hier, im lyrischen Gebiete, hat er seine eigentliche Stelle; denn pvi_1356.038
das Epische im ursprünglichen Volksgesange verewigt sich, wie wir schon pvi_1356.039
ausgeführt, nur, indem es aus dem Schooße des Lyrischen heraus und in pvi_1356.040
die Hände einer höheren, auf der Schwelle der Kunstpoesie stehenden Bildung pvi_1356.041
übertritt, und es bleibt dem Volke das, was einst ein Theil des Ganzen

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Thränen“, in den beiden: „Wanderers Nachtlied“ und „ein Gleiches (Ueber pvi_1356.002
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und das Lyrische, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, sich in ihn pvi_1356.015
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/218>, abgerufen am 24.11.2024.