Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1348.001
pvi_1348.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0210" n="1348"/><lb n="pvi_1348.001"/> keineswegs auf, welchen diese höchst reife Lyrik mit jenen homerischen Hymnen <lb n="pvi_1348.002"/> immer noch gemein hatte. Dieß war denn eben die epische Haltung. Es <lb n="pvi_1348.003"/> wird eine Reihe hoher Sculpturbilder aufgestellt, der Gott, der Held, die <lb n="pvi_1348.004"/> Stadt, die Landschaft durch Darstellung der Thaten, Schicksale in reiner <lb n="pvi_1348.005"/> Formenpracht aufgezeigt. Der Dichter trägt aus allen Sphären, die in <lb n="pvi_1348.006"/> Verbindung mit seinem großen Gegenstande stehen, epische Glanzpartieen <lb n="pvi_1348.007"/> herbei, wirft auf ihn ihre vereinigten Strahlen. Die einzelnen epischen <lb n="pvi_1348.008"/> Theile sind selten lang, aber sie laufen doch an dem gegebenen Bilde episch <lb n="pvi_1348.009"/> fort: sie <hi rendition="#g">entwickeln,</hi> und wenn wir vom lyrischen Style gesagt haben, <lb n="pvi_1348.010"/> daß er wesentlich <hi rendition="#g">nicht</hi> entwickle, so müssen wir nun hinzusetzen, daß der <lb n="pvi_1348.011"/> lyrische Styl der Griechen eben hiedurch im Lyrischen das Epische behält. <lb n="pvi_1348.012"/> Zu diesem Entwickeln gehört aber auch das Fortgehen von einem epischen <lb n="pvi_1348.013"/> Bilde zum andern; mag es immerhin zunächst noch so sehr als ein Sprung <lb n="pvi_1348.014"/> erscheinen: es ist doch ein Entwickeln im Sinne des Ansammelns vieler <lb n="pvi_1348.015"/> Bilder, um den Gegenstand mehr für das innere Auge, als für das Gefühl, <lb n="pvi_1348.016"/> in volles Licht zu setzen. Hiezu kommt nun ein anderer Zug: die starke <lb n="pvi_1348.017"/> Herrschaft des Gedanken-Elements, des Gnomischen. Sie ist so bedeutend, <lb n="pvi_1348.018"/> daß die Frage entstehen könnte, ob wir nicht die gesammten Formen der <lb n="pvi_1348.019"/> ausgebildeten Lyrik des classischen Alterthums in jene Sphäre verweisen <lb n="pvi_1348.020"/> sollen, welche wir Lyrik der Betrachtung nennen. Was nicht einen bestimmten <lb n="pvi_1348.021"/> Gehalt ausgesprochener ernster Lebensweisheit enthielt, hätte dem Griechen <lb n="pvi_1348.022"/> nie als ein Gedicht höherer Gattung gegolten. Daran knüpft sich von selbst <lb n="pvi_1348.023"/> das Ausmünden nach der Seite der Willensbestimmung: Rath, Warnung, <lb n="pvi_1348.024"/> Aufforderung. Dennoch schwimmen diese Einträge in einem hinreichend <lb n="pvi_1348.025"/> starken Elemente gewaltiger Erregung, um den Wärme-Grad des lyrischen <lb n="pvi_1348.026"/> Charakters zu retten. – Ein ganz organischer Gang der Fortbildung stellt <lb n="pvi_1348.027"/> sich nun dar, wenn wir diese hymnische Dichtung von den homerischen <lb n="pvi_1348.028"/> Hymnen, dann von den noch nicht so labyrinthisch, wie von Pindar, componirten <lb n="pvi_1348.029"/> Kunstwerken der chorischen Poesie zu den <hi rendition="#g">Dithyramben</hi> und <lb n="pvi_1348.030"/> von da zu jener Fixirung der kühn abspringenden Compositionsweise begleiten, <lb n="pvi_1348.031"/> wie sie sich als Hauptmerkmal der <hi rendition="#g">Ode</hi> im späteren Sprachgebrauche festgesetzt <lb n="pvi_1348.032"/> hat. Wir dürfen nämlich den Dithyramb als diejenige Form des <lb n="pvi_1348.033"/> lyrischen Prozesses betrachten, wo der Jnhalt in das Subject herübertritt, <lb n="pvi_1348.034"/> aber das ihm nicht gewachsene Gefäß in's Wanken bringt und überfluthet. <lb n="pvi_1348.035"/> Er wird Stimmung des Subjects, aber dieses ist von dem zu starken Trunke <lb n="pvi_1348.036"/> berauscht, mit der innern Betäubung kommt die technische Form in's Schwanken <lb n="pvi_1348.037"/> und schweift ungebunden in den verschiedensten Rhythmen hin und her. <lb n="pvi_1348.038"/> Jn Griechenland hatte dieß die bestimmte Bedeutung, daß der Dithyramb <lb n="pvi_1348.039"/> dem Dionysos galt, der Gottheit, die, wie keine andere, eine tief mystische <lb n="pvi_1348.040"/> Einwohnung des All-Lebens in das innerste Seelen- und Nervenleben des <lb n="pvi_1348.041"/> Menschen darstellte. Das epische Element blieb allerdings auch hier, indem </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1348/0210]
pvi_1348.001
keineswegs auf, welchen diese höchst reife Lyrik mit jenen homerischen Hymnen pvi_1348.002
immer noch gemein hatte. Dieß war denn eben die epische Haltung. Es pvi_1348.003
wird eine Reihe hoher Sculpturbilder aufgestellt, der Gott, der Held, die pvi_1348.004
Stadt, die Landschaft durch Darstellung der Thaten, Schicksale in reiner pvi_1348.005
Formenpracht aufgezeigt. Der Dichter trägt aus allen Sphären, die in pvi_1348.006
Verbindung mit seinem großen Gegenstande stehen, epische Glanzpartieen pvi_1348.007
herbei, wirft auf ihn ihre vereinigten Strahlen. Die einzelnen epischen pvi_1348.008
Theile sind selten lang, aber sie laufen doch an dem gegebenen Bilde episch pvi_1348.009
fort: sie entwickeln, und wenn wir vom lyrischen Style gesagt haben, pvi_1348.010
daß er wesentlich nicht entwickle, so müssen wir nun hinzusetzen, daß der pvi_1348.011
lyrische Styl der Griechen eben hiedurch im Lyrischen das Epische behält. pvi_1348.012
Zu diesem Entwickeln gehört aber auch das Fortgehen von einem epischen pvi_1348.013
Bilde zum andern; mag es immerhin zunächst noch so sehr als ein Sprung pvi_1348.014
erscheinen: es ist doch ein Entwickeln im Sinne des Ansammelns vieler pvi_1348.015
Bilder, um den Gegenstand mehr für das innere Auge, als für das Gefühl, pvi_1348.016
in volles Licht zu setzen. Hiezu kommt nun ein anderer Zug: die starke pvi_1348.017
Herrschaft des Gedanken-Elements, des Gnomischen. Sie ist so bedeutend, pvi_1348.018
daß die Frage entstehen könnte, ob wir nicht die gesammten Formen der pvi_1348.019
ausgebildeten Lyrik des classischen Alterthums in jene Sphäre verweisen pvi_1348.020
sollen, welche wir Lyrik der Betrachtung nennen. Was nicht einen bestimmten pvi_1348.021
Gehalt ausgesprochener ernster Lebensweisheit enthielt, hätte dem Griechen pvi_1348.022
nie als ein Gedicht höherer Gattung gegolten. Daran knüpft sich von selbst pvi_1348.023
das Ausmünden nach der Seite der Willensbestimmung: Rath, Warnung, pvi_1348.024
Aufforderung. Dennoch schwimmen diese Einträge in einem hinreichend pvi_1348.025
starken Elemente gewaltiger Erregung, um den Wärme-Grad des lyrischen pvi_1348.026
Charakters zu retten. – Ein ganz organischer Gang der Fortbildung stellt pvi_1348.027
sich nun dar, wenn wir diese hymnische Dichtung von den homerischen pvi_1348.028
Hymnen, dann von den noch nicht so labyrinthisch, wie von Pindar, componirten pvi_1348.029
Kunstwerken der chorischen Poesie zu den Dithyramben und pvi_1348.030
von da zu jener Fixirung der kühn abspringenden Compositionsweise begleiten, pvi_1348.031
wie sie sich als Hauptmerkmal der Ode im späteren Sprachgebrauche festgesetzt pvi_1348.032
hat. Wir dürfen nämlich den Dithyramb als diejenige Form des pvi_1348.033
lyrischen Prozesses betrachten, wo der Jnhalt in das Subject herübertritt, pvi_1348.034
aber das ihm nicht gewachsene Gefäß in's Wanken bringt und überfluthet. pvi_1348.035
Er wird Stimmung des Subjects, aber dieses ist von dem zu starken Trunke pvi_1348.036
berauscht, mit der innern Betäubung kommt die technische Form in's Schwanken pvi_1348.037
und schweift ungebunden in den verschiedensten Rhythmen hin und her. pvi_1348.038
Jn Griechenland hatte dieß die bestimmte Bedeutung, daß der Dithyramb pvi_1348.039
dem Dionysos galt, der Gottheit, die, wie keine andere, eine tief mystische pvi_1348.040
Einwohnung des All-Lebens in das innerste Seelen- und Nervenleben des pvi_1348.041
Menschen darstellte. Das epische Element blieb allerdings auch hier, indem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |