Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1341.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0203" n="1341"/><lb n="pvi_1341.001"/> Eintritt eines erwarteten Schrecklichen ihn befreite, in einer abschließenden <lb n="pvi_1341.002"/> längeren Zeile, doch, wie die andern, in schweren trochäischen Wellen, aushaucht, <lb n="pvi_1341.003"/> und erst in der letzten Strophe wird die Recitation diesem rhythmischen <lb n="pvi_1341.004"/> Ende einen leichteren, schließlich entlastenden Ton geben. Aehnlich <lb n="pvi_1341.005"/> verfolge man, wie die kurzen Zwischenstrophen im „Zauberlehrling“ bald <lb n="pvi_1341.006"/> die unwillkommene Stetigkeit des Fortwirkens der Zauberkräfte, bald die <lb n="pvi_1341.007"/> drollig angstvolle Hast des Lehrlings, bald den ordnenden Befehl und <lb n="pvi_1341.008"/> die Lehre des Meisters ausdrücken. – Wir haben hier überall Strophenbildungen, <lb n="pvi_1341.009"/> die das Einfache verlassen, ohne zu verwickelt zu werden und <lb n="pvi_1341.010"/> namentlich ist es der <hi rendition="#g">Reim,</hi> der die übersichtliche Haltung sichert. Es <lb n="pvi_1341.011"/> erhellt aus Allem, was über den Charakter des Lyrischen gesagt ist, daß <lb n="pvi_1341.012"/> er in dieser Dichtart die Bedeutung, die ihm in §. 860, 3. zuerkannt ist, <lb n="pvi_1341.013"/> im engsten Sinne behauptet. Er ist wesentlich stimmungsvoll und man <lb n="pvi_1341.014"/> kann sagen, daß die lyrische Form ihren Beruf, ganz Kunst der poetischen <lb n="pvi_1341.015"/> Stimmung zu sein, erst mit ihm erreicht habe. Das Verhältniß der lyrischen <lb n="pvi_1341.016"/> Dichtung zur Musik ist schon in §. 839, 3. berührt. Das Epos <lb n="pvi_1341.017"/> ist zum recitirenden Vortrag, das Lied zum Gesange bestimmt. Die innige <lb n="pvi_1341.018"/> Analogie zwischen diesen ist in aller Volkspoesie wirklicher, untrennbarer <lb n="pvi_1341.019"/> Bund. Die griechische Lyrik hob ihn auch als Kunstpoesie nicht auf, sondern <lb n="pvi_1341.020"/> wuchs und vervollkommnete sich durchaus zugleich mit der musikalischen <lb n="pvi_1341.021"/> Kunst, mit den Jnstrumenten, und in der chorischen Form trat der Tanz <lb n="pvi_1341.022"/> hinzu, der die schwierig verschlungenen Maaße auch in die räumliche Figur <lb n="pvi_1341.023"/> übersetzte und dem Auge vortrug. Man muß sich dieß veranschaulichen, <lb n="pvi_1341.024"/> um sich klar zu machen, welche Fülle stimmungsvollen Genusses dem Griechen <lb n="pvi_1341.025"/> schon in der Form lag. Namentlich hatten Strophe, Antistrophe <lb n="pvi_1341.026"/> und Epodos die Tanzfigur der Evolution, ihrer Abwicklung und des Stillstands <lb n="pvi_1341.027"/> zur Grundlage. Nachdem nun die moderne Bildung das Band gelöst <lb n="pvi_1341.028"/> hat, ist die Lyrik der Kunstpoesie zunächst zum Lesen bestimmt, doch ist <lb n="pvi_1341.029"/> hier die Trennung vom Sinnlichen ungleich härter, als im Epischen, wie <lb n="pvi_1341.030"/> es vom öffentlichen Platze, wo einst der Rhapsode horchenden Volksmassen <lb n="pvi_1341.031"/> mit heller Stimme vortrug, in die Stube zurückgetreten ist. Mindestens <lb n="pvi_1341.032"/> gut declamirt wollen wir das lyrische Gedicht hören; allein je stimmungsvoller, <lb n="pvi_1341.033"/> je ächter lyrisch, desto weniger freilich kann dieß genügen, ja desto <lb n="pvi_1341.034"/> weniger paßt es. Es gibt eine lyrische Poesie und wir werden ihr ihre <lb n="pvi_1341.035"/> Stelle anweisen, die declamatorischen Charakter hat, aber wer keine Erzeugnisse <lb n="pvi_1341.036"/> aufzuweisen hat, die wie Gesang klingen, zum Gesang auffordern, <lb n="pvi_1341.037"/> dem Componisten entgegenkommen, der hat sich nicht wahrhaft als lyrischer <lb n="pvi_1341.038"/> Dichter bewährt; seine Werke wurzeln nicht im reinen Elemente der <lb n="pvi_1341.039"/> Stimmung.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1341/0203]
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Eintritt eines erwarteten Schrecklichen ihn befreite, in einer abschließenden pvi_1341.002
längeren Zeile, doch, wie die andern, in schweren trochäischen Wellen, aushaucht, pvi_1341.003
und erst in der letzten Strophe wird die Recitation diesem rhythmischen pvi_1341.004
Ende einen leichteren, schließlich entlastenden Ton geben. Aehnlich pvi_1341.005
verfolge man, wie die kurzen Zwischenstrophen im „Zauberlehrling“ bald pvi_1341.006
die unwillkommene Stetigkeit des Fortwirkens der Zauberkräfte, bald die pvi_1341.007
drollig angstvolle Hast des Lehrlings, bald den ordnenden Befehl und pvi_1341.008
die Lehre des Meisters ausdrücken. – Wir haben hier überall Strophenbildungen, pvi_1341.009
die das Einfache verlassen, ohne zu verwickelt zu werden und pvi_1341.010
namentlich ist es der Reim, der die übersichtliche Haltung sichert. Es pvi_1341.011
erhellt aus Allem, was über den Charakter des Lyrischen gesagt ist, daß pvi_1341.012
er in dieser Dichtart die Bedeutung, die ihm in §. 860, 3. zuerkannt ist, pvi_1341.013
im engsten Sinne behauptet. Er ist wesentlich stimmungsvoll und man pvi_1341.014
kann sagen, daß die lyrische Form ihren Beruf, ganz Kunst der poetischen pvi_1341.015
Stimmung zu sein, erst mit ihm erreicht habe. Das Verhältniß der lyrischen pvi_1341.016
Dichtung zur Musik ist schon in §. 839, 3. berührt. Das Epos pvi_1341.017
ist zum recitirenden Vortrag, das Lied zum Gesange bestimmt. Die innige pvi_1341.018
Analogie zwischen diesen ist in aller Volkspoesie wirklicher, untrennbarer pvi_1341.019
Bund. Die griechische Lyrik hob ihn auch als Kunstpoesie nicht auf, sondern pvi_1341.020
wuchs und vervollkommnete sich durchaus zugleich mit der musikalischen pvi_1341.021
Kunst, mit den Jnstrumenten, und in der chorischen Form trat der Tanz pvi_1341.022
hinzu, der die schwierig verschlungenen Maaße auch in die räumliche Figur pvi_1341.023
übersetzte und dem Auge vortrug. Man muß sich dieß veranschaulichen, pvi_1341.024
um sich klar zu machen, welche Fülle stimmungsvollen Genusses dem Griechen pvi_1341.025
schon in der Form lag. Namentlich hatten Strophe, Antistrophe pvi_1341.026
und Epodos die Tanzfigur der Evolution, ihrer Abwicklung und des Stillstands pvi_1341.027
zur Grundlage. Nachdem nun die moderne Bildung das Band gelöst pvi_1341.028
hat, ist die Lyrik der Kunstpoesie zunächst zum Lesen bestimmt, doch ist pvi_1341.029
hier die Trennung vom Sinnlichen ungleich härter, als im Epischen, wie pvi_1341.030
es vom öffentlichen Platze, wo einst der Rhapsode horchenden Volksmassen pvi_1341.031
mit heller Stimme vortrug, in die Stube zurückgetreten ist. Mindestens pvi_1341.032
gut declamirt wollen wir das lyrische Gedicht hören; allein je stimmungsvoller, pvi_1341.033
je ächter lyrisch, desto weniger freilich kann dieß genügen, ja desto pvi_1341.034
weniger paßt es. Es gibt eine lyrische Poesie und wir werden ihr ihre pvi_1341.035
Stelle anweisen, die declamatorischen Charakter hat, aber wer keine Erzeugnisse pvi_1341.036
aufzuweisen hat, die wie Gesang klingen, zum Gesang auffordern, pvi_1341.037
dem Componisten entgegenkommen, der hat sich nicht wahrhaft als lyrischer pvi_1341.038
Dichter bewährt; seine Werke wurzeln nicht im reinen Elemente der pvi_1341.039
Stimmung.
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