pvi_1337.001 freilich keine Beruhigung im gewöhnlichen Sinn, aber als höchster Ausdruck pvi_1337.002 der Sehnsucht doch ein idealer Abschluß. Jn Mignon's Lied "Kennst du pvi_1337.003 das Land" steigert sich die Sehnsucht in ununterbrochener Folge; in drei pvi_1337.004 Strophen stellt sich einfach die Dreigliederung dar; die erste malt die Natur pvi_1337.005 Jtaliens, die zweite seine Kunst, und hier hängt sich an das vorschwebende pvi_1337.006 Bild die dunkle Erinnerung der dort verlebten Kindheit; dadurch befeuert pvi_1337.007 sich in der letzten Strophe die Sehnsucht, die Phantasie sucht den Weg zu pvi_1337.008 dem Ziele derselben und findet ihn in einem der Alpenpässe, dessen wilde pvi_1337.009 Gebirgswelt recht der zum Gipfel angelangten Heftigkeit des Wunsches pvi_1337.010 entspricht, und mit diesem beschleunigten Pulse schließt das Lied. Dagegen pvi_1337.011 stellt sich in Göthe's Gedicht "Rastlose Liebe" der stürmische Ausbruch an pvi_1337.012 den Anfang, bildet den ersten Satz: der Dichter möchte dem Gefühl einer pvi_1337.013 neuen Liebes-Anziehung sich entreißen, stürzt dem Schnee, dem Regen, dem pvi_1337.014 Wind entgegen; im zweiten Satze gibt er sich davon Rechenschaft, aber pvi_1337.015 wir ahnen schon, daß die Schmerzen, denen er entfliehen will, nicht so pvi_1337.016 unwillkommen sind: "alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach! wie so pvi_1337.017 eigen machet das Schmerzen!", und im dritten Satze hat er sich in das pvi_1337.018 Glück ohne Ruh' ergeben und erkennt der Liebe, aus der es kommt, die pvi_1337.019 Krone des Lebens zu: erst jetzt, mit diesem Geständniß ist ausgesprochen, was pvi_1337.020 dem Anfange noch verschwiegen zu Grunde liegt. - Diese Winke mögen pvi_1337.021 hinreichen, zum weiteren Nachdenken über die lyrische Composition und die pvi_1337.022 mancherlei Umstellungen ihrer Glieder anzuregen; sie wären leicht zu vermehren, pvi_1337.023 namentlich wenn wir auf die Form eingehen wollten, die eine pvi_1337.024 Handlung erzählt und hiemit an das Aristotelische "Anfang, Mitte und pvi_1337.025 Schluß" in ähnlicher Bestimmtheit gewiesen ist wie Epos und Drama. pvi_1337.026 Wesentlich ist aber hier noch das Moment einer wiederkehrenden Unterbrechung pvi_1337.027 des lyrischen Verlaufs, die denn auch am Abschlusse noch ihr Recht pvi_1337.028 behauptet, hervorzuheben: es ist der Refrain, wie ihn besonders das germanische pvi_1337.029 Volkslied und die durch es verjüngte Kunstpoesie liebt. Er ist pvi_1337.030 zunächst überhaupt Ausdruck davon, daß das Gefühl sich in Worten eigentlich pvi_1337.031 nicht auszubreiten, darzustellen vermag; so wird in Gretchen's schon besprochenem pvi_1337.032 Liede: "Meine Ruh' ist hin" der erste Vers, der das Thema pvi_1337.033 hingestellt hat, zum wiederkehrenden Strophen-Abschluß, zum Refrain: es pvi_1337.034 ist ein mattes Zurücksinken von dem Versuche einer ausführenden Schilderung pvi_1337.035 des Zustandes einer liebenden Seele, die ihr Centrum verloren hat, pvi_1337.036 aber am Schlusse kann er hier nicht wiederkehren, da, entflammt am Bilde pvi_1337.037 des Geliebten, das Gefühl sich Luft gemacht hat und in's Weite ergießt. pvi_1337.038 Dagegen in Gretchen's Gebet faßt er als Anfang und Schluß das Ganze pvi_1337.039 ein; hier ist er der Ausdruck davon, daß die Verzweiflung nur bei der pvi_1337.040 göttlichen, mitfühlenden Liebe Hülfe suchen kann, er ist aber am Schluß pvi_1337.041 etwas verändert, ein heftigeres Flehen. Der Refrain trägt durch seine
pvi_1337.001 freilich keine Beruhigung im gewöhnlichen Sinn, aber als höchster Ausdruck pvi_1337.002 der Sehnsucht doch ein idealer Abschluß. Jn Mignon's Lied „Kennst du pvi_1337.003 das Land“ steigert sich die Sehnsucht in ununterbrochener Folge; in drei pvi_1337.004 Strophen stellt sich einfach die Dreigliederung dar; die erste malt die Natur pvi_1337.005 Jtaliens, die zweite seine Kunst, und hier hängt sich an das vorschwebende pvi_1337.006 Bild die dunkle Erinnerung der dort verlebten Kindheit; dadurch befeuert pvi_1337.007 sich in der letzten Strophe die Sehnsucht, die Phantasie sucht den Weg zu pvi_1337.008 dem Ziele derselben und findet ihn in einem der Alpenpässe, dessen wilde pvi_1337.009 Gebirgswelt recht der zum Gipfel angelangten Heftigkeit des Wunsches pvi_1337.010 entspricht, und mit diesem beschleunigten Pulse schließt das Lied. Dagegen pvi_1337.011 stellt sich in Göthe's Gedicht „Rastlose Liebe“ der stürmische Ausbruch an pvi_1337.012 den Anfang, bildet den ersten Satz: der Dichter möchte dem Gefühl einer pvi_1337.013 neuen Liebes-Anziehung sich entreißen, stürzt dem Schnee, dem Regen, dem pvi_1337.014 Wind entgegen; im zweiten Satze gibt er sich davon Rechenschaft, aber pvi_1337.015 wir ahnen schon, daß die Schmerzen, denen er entfliehen will, nicht so pvi_1337.016 unwillkommen sind: „alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach! wie so pvi_1337.017 eigen machet das Schmerzen!“, und im dritten Satze hat er sich in das pvi_1337.018 Glück ohne Ruh' ergeben und erkennt der Liebe, aus der es kommt, die pvi_1337.019 Krone des Lebens zu: erst jetzt, mit diesem Geständniß ist ausgesprochen, was pvi_1337.020 dem Anfange noch verschwiegen zu Grunde liegt. – Diese Winke mögen pvi_1337.021 hinreichen, zum weiteren Nachdenken über die lyrische Composition und die pvi_1337.022 mancherlei Umstellungen ihrer Glieder anzuregen; sie wären leicht zu vermehren, pvi_1337.023 namentlich wenn wir auf die Form eingehen wollten, die eine pvi_1337.024 Handlung erzählt und hiemit an das Aristotelische „Anfang, Mitte und pvi_1337.025 Schluß“ in ähnlicher Bestimmtheit gewiesen ist wie Epos und Drama. pvi_1337.026 Wesentlich ist aber hier noch das Moment einer wiederkehrenden Unterbrechung pvi_1337.027 des lyrischen Verlaufs, die denn auch am Abschlusse noch ihr Recht pvi_1337.028 behauptet, hervorzuheben: es ist der Refrain, wie ihn besonders das germanische pvi_1337.029 Volkslied und die durch es verjüngte Kunstpoesie liebt. Er ist pvi_1337.030 zunächst überhaupt Ausdruck davon, daß das Gefühl sich in Worten eigentlich pvi_1337.031 nicht auszubreiten, darzustellen vermag; so wird in Gretchen's schon besprochenem pvi_1337.032 Liede: „Meine Ruh' ist hin“ der erste Vers, der das Thema pvi_1337.033 hingestellt hat, zum wiederkehrenden Strophen-Abschluß, zum Refrain: es pvi_1337.034 ist ein mattes Zurücksinken von dem Versuche einer ausführenden Schilderung pvi_1337.035 des Zustandes einer liebenden Seele, die ihr Centrum verloren hat, pvi_1337.036 aber am Schlusse kann er hier nicht wiederkehren, da, entflammt am Bilde pvi_1337.037 des Geliebten, das Gefühl sich Luft gemacht hat und in's Weite ergießt. pvi_1337.038 Dagegen in Gretchen's Gebet faßt er als Anfang und Schluß das Ganze pvi_1337.039 ein; hier ist er der Ausdruck davon, daß die Verzweiflung nur bei der pvi_1337.040 göttlichen, mitfühlenden Liebe Hülfe suchen kann, er ist aber am Schluß pvi_1337.041 etwas verändert, ein heftigeres Flehen. Der Refrain trägt durch seine
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/199>, abgerufen am 15.08.2024.
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