Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1337.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0199" n="1337"/><lb n="pvi_1337.001"/> freilich keine Beruhigung im gewöhnlichen Sinn, aber als höchster Ausdruck <lb n="pvi_1337.002"/> der Sehnsucht doch ein idealer Abschluß. Jn Mignon's Lied „Kennst du <lb n="pvi_1337.003"/> das Land“ steigert sich die Sehnsucht in ununterbrochener Folge; in drei <lb n="pvi_1337.004"/> Strophen stellt sich einfach die Dreigliederung dar; die erste malt die Natur <lb n="pvi_1337.005"/> Jtaliens, die zweite seine Kunst, und hier hängt sich an das vorschwebende <lb n="pvi_1337.006"/> Bild die dunkle Erinnerung der dort verlebten Kindheit; dadurch befeuert <lb n="pvi_1337.007"/> sich in der letzten Strophe die Sehnsucht, die Phantasie sucht den Weg zu <lb n="pvi_1337.008"/> dem Ziele derselben und findet ihn in einem der Alpenpässe, dessen wilde <lb n="pvi_1337.009"/> Gebirgswelt recht der zum Gipfel angelangten Heftigkeit des Wunsches <lb n="pvi_1337.010"/> entspricht, und mit diesem beschleunigten Pulse schließt das Lied. Dagegen <lb n="pvi_1337.011"/> stellt sich in Göthe's Gedicht „Rastlose Liebe“ der stürmische Ausbruch an <lb n="pvi_1337.012"/> den Anfang, bildet den ersten Satz: der Dichter möchte dem Gefühl einer <lb n="pvi_1337.013"/> neuen Liebes-Anziehung sich entreißen, stürzt dem Schnee, dem Regen, dem <lb n="pvi_1337.014"/> Wind entgegen; im zweiten Satze gibt er sich davon Rechenschaft, aber <lb n="pvi_1337.015"/> wir ahnen schon, daß die Schmerzen, denen er entfliehen will, nicht so <lb n="pvi_1337.016"/> unwillkommen sind: „alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach! wie so <lb n="pvi_1337.017"/> eigen machet das Schmerzen!“, und im dritten Satze hat er sich in das <lb n="pvi_1337.018"/> Glück ohne Ruh' ergeben und erkennt der Liebe, aus der es kommt, die <lb n="pvi_1337.019"/> Krone des Lebens zu: erst jetzt, mit diesem Geständniß ist ausgesprochen, was <lb n="pvi_1337.020"/> dem Anfange noch verschwiegen zu Grunde liegt. – Diese Winke mögen <lb n="pvi_1337.021"/> hinreichen, zum weiteren Nachdenken über die lyrische Composition und die <lb n="pvi_1337.022"/> mancherlei Umstellungen ihrer Glieder anzuregen; sie wären leicht zu vermehren, <lb n="pvi_1337.023"/> namentlich wenn wir auf die Form eingehen wollten, die eine <lb n="pvi_1337.024"/> Handlung erzählt und hiemit an das Aristotelische „Anfang, Mitte und <lb n="pvi_1337.025"/> Schluß“ in ähnlicher Bestimmtheit gewiesen ist wie Epos und Drama. <lb n="pvi_1337.026"/> Wesentlich ist aber hier noch das Moment einer wiederkehrenden Unterbrechung <lb n="pvi_1337.027"/> des lyrischen Verlaufs, die denn auch am Abschlusse noch ihr Recht <lb n="pvi_1337.028"/> behauptet, hervorzuheben: es ist der Refrain, wie ihn besonders das germanische <lb n="pvi_1337.029"/> Volkslied und die durch es verjüngte Kunstpoesie liebt. Er ist <lb n="pvi_1337.030"/> zunächst überhaupt Ausdruck davon, daß das Gefühl sich in Worten eigentlich <lb n="pvi_1337.031"/> nicht auszubreiten, darzustellen vermag; so wird in Gretchen's schon besprochenem <lb n="pvi_1337.032"/> Liede: „Meine Ruh' ist hin“ der erste Vers, der das Thema <lb n="pvi_1337.033"/> hingestellt hat, zum wiederkehrenden Strophen-Abschluß, zum Refrain: es <lb n="pvi_1337.034"/> ist ein mattes Zurücksinken von dem Versuche einer ausführenden Schilderung <lb n="pvi_1337.035"/> des Zustandes einer liebenden Seele, die ihr Centrum verloren hat, <lb n="pvi_1337.036"/> aber am Schlusse kann er hier nicht wiederkehren, da, entflammt am Bilde <lb n="pvi_1337.037"/> des Geliebten, das Gefühl sich Luft gemacht hat und in's Weite ergießt. <lb n="pvi_1337.038"/> Dagegen in Gretchen's Gebet faßt er als Anfang und Schluß das Ganze <lb n="pvi_1337.039"/> ein; hier ist er der Ausdruck davon, daß die Verzweiflung nur bei der <lb n="pvi_1337.040"/> göttlichen, mitfühlenden Liebe Hülfe suchen kann, er ist aber am Schluß <lb n="pvi_1337.041"/> etwas verändert, ein heftigeres Flehen. Der Refrain trägt durch seine </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1337/0199]
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freilich keine Beruhigung im gewöhnlichen Sinn, aber als höchster Ausdruck pvi_1337.002
der Sehnsucht doch ein idealer Abschluß. Jn Mignon's Lied „Kennst du pvi_1337.003
das Land“ steigert sich die Sehnsucht in ununterbrochener Folge; in drei pvi_1337.004
Strophen stellt sich einfach die Dreigliederung dar; die erste malt die Natur pvi_1337.005
Jtaliens, die zweite seine Kunst, und hier hängt sich an das vorschwebende pvi_1337.006
Bild die dunkle Erinnerung der dort verlebten Kindheit; dadurch befeuert pvi_1337.007
sich in der letzten Strophe die Sehnsucht, die Phantasie sucht den Weg zu pvi_1337.008
dem Ziele derselben und findet ihn in einem der Alpenpässe, dessen wilde pvi_1337.009
Gebirgswelt recht der zum Gipfel angelangten Heftigkeit des Wunsches pvi_1337.010
entspricht, und mit diesem beschleunigten Pulse schließt das Lied. Dagegen pvi_1337.011
stellt sich in Göthe's Gedicht „Rastlose Liebe“ der stürmische Ausbruch an pvi_1337.012
den Anfang, bildet den ersten Satz: der Dichter möchte dem Gefühl einer pvi_1337.013
neuen Liebes-Anziehung sich entreißen, stürzt dem Schnee, dem Regen, dem pvi_1337.014
Wind entgegen; im zweiten Satze gibt er sich davon Rechenschaft, aber pvi_1337.015
wir ahnen schon, daß die Schmerzen, denen er entfliehen will, nicht so pvi_1337.016
unwillkommen sind: „alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach! wie so pvi_1337.017
eigen machet das Schmerzen!“, und im dritten Satze hat er sich in das pvi_1337.018
Glück ohne Ruh' ergeben und erkennt der Liebe, aus der es kommt, die pvi_1337.019
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dem Anfange noch verschwiegen zu Grunde liegt. – Diese Winke mögen pvi_1337.021
hinreichen, zum weiteren Nachdenken über die lyrische Composition und die pvi_1337.022
mancherlei Umstellungen ihrer Glieder anzuregen; sie wären leicht zu vermehren, pvi_1337.023
namentlich wenn wir auf die Form eingehen wollten, die eine pvi_1337.024
Handlung erzählt und hiemit an das Aristotelische „Anfang, Mitte und pvi_1337.025
Schluß“ in ähnlicher Bestimmtheit gewiesen ist wie Epos und Drama. pvi_1337.026
Wesentlich ist aber hier noch das Moment einer wiederkehrenden Unterbrechung pvi_1337.027
des lyrischen Verlaufs, die denn auch am Abschlusse noch ihr Recht pvi_1337.028
behauptet, hervorzuheben: es ist der Refrain, wie ihn besonders das germanische pvi_1337.029
Volkslied und die durch es verjüngte Kunstpoesie liebt. Er ist pvi_1337.030
zunächst überhaupt Ausdruck davon, daß das Gefühl sich in Worten eigentlich pvi_1337.031
nicht auszubreiten, darzustellen vermag; so wird in Gretchen's schon besprochenem pvi_1337.032
Liede: „Meine Ruh' ist hin“ der erste Vers, der das Thema pvi_1337.033
hingestellt hat, zum wiederkehrenden Strophen-Abschluß, zum Refrain: es pvi_1337.034
ist ein mattes Zurücksinken von dem Versuche einer ausführenden Schilderung pvi_1337.035
des Zustandes einer liebenden Seele, die ihr Centrum verloren hat, pvi_1337.036
aber am Schlusse kann er hier nicht wiederkehren, da, entflammt am Bilde pvi_1337.037
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ein; hier ist er der Ausdruck davon, daß die Verzweiflung nur bei der pvi_1337.040
göttlichen, mitfühlenden Liebe Hülfe suchen kann, er ist aber am Schluß pvi_1337.041
etwas verändert, ein heftigeres Flehen. Der Refrain trägt durch seine
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