pvi_1331.001 bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente pvi_1331.002 kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. pvi_1331.003 Jst ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in pvi_1331.004 Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die pvi_1331.005 Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: pvi_1331.006 in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise. pvi_1331.007 Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantasiethätigkeit gefordert, daß sie von pvi_1331.008 der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturschönes ausgehe, allein in pvi_1331.009 den andern Gebieten wird an dem so gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er pvi_1331.010 ein größeres Weltbild darstellt, das eine zweite, ideale Natur ist und pvi_1331.011 worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Musik fällt hier weg, pvi_1331.012 da sie gar kein Mittel hat, den Anstoß, wovon die erfindende Stimmung pvi_1331.013 ausgegangen, erkennbar durchblicken zu lassen; der lyrische Dichter aber sagt pvi_1331.014 es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im pvi_1331.015 Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum ersten oder letzten Mal gesehen, pvi_1331.016 wo er am Todtenbette des Freunds gestanden u. s. w., den Grundgehalt des pvi_1331.017 Lebens so oder so gefühlt hat; wir sehen ihn im Nachen auf dem Strom, pvi_1331.018 über den er vor Jahren schon einmal gefahren, von den Manen derer, die pvi_1331.019 damals mit ihm waren, begleitet; wir sehen ihn dem Schnee, dem Regen pvi_1331.020 entgegenstürzen, um die Brust zu kühlen, mit schlagendem Herzen geschwind pvi_1331.021 zu Pferde steigen, das Rebengeländer an seinem Fenster mit Thränen befeuchten; pvi_1331.022 das Mägdlein steht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn pvi_1331.023 die Hähne kräh'n, und wie sie in's Feuer blickt, fällt ihr ein, daß sie die pvi_1331.024 Nacht vom treulosen Knaben geträumt hat, die Verlassene schleicht durch's pvi_1331.025 Wiesenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation pvi_1331.026 und eben weil er sie als solche accentuirt, mit einem raschen Lichte beleuchtet, pvi_1331.027 geht er nicht zu der Ausführung fort, worin sie ihre Bedeutung verlöre. pvi_1331.028 Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner andern das Göthe'sche pvi_1331.029 Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne pvi_1331.030 des Wortes sei, daher konnte aber auch in keinem Kunstgebiete das Wahre pvi_1331.031 dieses Wortes sich so sehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen pvi_1331.032 Anlaß verstand, von dem nicht freie Gunst der Muse, sondern die Absicht pvi_1331.033 des Machens, etwa gar auf Bestellung, ausgeht. Die Gelegenheit ist pvi_1331.034 der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt. pvi_1331.035 Alles ästhetische Erfinden ist zufällig, aber in keinem Gebiete betont sich der pvi_1331.036 Begriff der Zufälligkeit so, wie im lyrischen, eben weil der außer aller Berechnung pvi_1331.037 liegende Ausgangspunct als solcher in der Situation premirt und pvi_1331.038 erhalten wird. Die Situation ist der Moment, wo Subject und Object pvi_1331.039 sich erfassen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und sein Weltgefühl pvi_1331.040 in einem Einzelgefühl ausspricht. Treffende und feine Bemerkungen über pvi_1331.041 diesen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in seiner meisterhaften
pvi_1331.001 bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente pvi_1331.002 kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. pvi_1331.003 Jst ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in pvi_1331.004 Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die pvi_1331.005 Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: pvi_1331.006 in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise. pvi_1331.007 Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantasiethätigkeit gefordert, daß sie von pvi_1331.008 der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturschönes ausgehe, allein in pvi_1331.009 den andern Gebieten wird an dem so gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er pvi_1331.010 ein größeres Weltbild darstellt, das eine zweite, ideale Natur ist und pvi_1331.011 worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Musik fällt hier weg, pvi_1331.012 da sie gar kein Mittel hat, den Anstoß, wovon die erfindende Stimmung pvi_1331.013 ausgegangen, erkennbar durchblicken zu lassen; der lyrische Dichter aber sagt pvi_1331.014 es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im pvi_1331.015 Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum ersten oder letzten Mal gesehen, pvi_1331.016 wo er am Todtenbette des Freunds gestanden u. s. w., den Grundgehalt des pvi_1331.017 Lebens so oder so gefühlt hat; wir sehen ihn im Nachen auf dem Strom, pvi_1331.018 über den er vor Jahren schon einmal gefahren, von den Manen derer, die pvi_1331.019 damals mit ihm waren, begleitet; wir sehen ihn dem Schnee, dem Regen pvi_1331.020 entgegenstürzen, um die Brust zu kühlen, mit schlagendem Herzen geschwind pvi_1331.021 zu Pferde steigen, das Rebengeländer an seinem Fenster mit Thränen befeuchten; pvi_1331.022 das Mägdlein steht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn pvi_1331.023 die Hähne kräh'n, und wie sie in's Feuer blickt, fällt ihr ein, daß sie die pvi_1331.024 Nacht vom treulosen Knaben geträumt hat, die Verlassene schleicht durch's pvi_1331.025 Wiesenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation pvi_1331.026 und eben weil er sie als solche accentuirt, mit einem raschen Lichte beleuchtet, pvi_1331.027 geht er nicht zu der Ausführung fort, worin sie ihre Bedeutung verlöre. pvi_1331.028 Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner andern das Göthe'sche pvi_1331.029 Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne pvi_1331.030 des Wortes sei, daher konnte aber auch in keinem Kunstgebiete das Wahre pvi_1331.031 dieses Wortes sich so sehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen pvi_1331.032 Anlaß verstand, von dem nicht freie Gunst der Muse, sondern die Absicht pvi_1331.033 des Machens, etwa gar auf Bestellung, ausgeht. Die Gelegenheit ist pvi_1331.034 der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt. pvi_1331.035 Alles ästhetische Erfinden ist zufällig, aber in keinem Gebiete betont sich der pvi_1331.036 Begriff der Zufälligkeit so, wie im lyrischen, eben weil der außer aller Berechnung pvi_1331.037 liegende Ausgangspunct als solcher in der Situation premirt und pvi_1331.038 erhalten wird. Die Situation ist der Moment, wo Subject und Object pvi_1331.039 sich erfassen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und sein Weltgefühl pvi_1331.040 in einem Einzelgefühl ausspricht. Treffende und feine Bemerkungen über pvi_1331.041 diesen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in seiner meisterhaften
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bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente pvi_1331.002
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/193>, abgerufen am 15.08.2024.
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