Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1326.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0188" n="1326"/><lb n="pvi_1326.001"/> Lyriker seine subjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen <lb n="pvi_1326.002"/> Beispielen, worin diese Anschauungsbilder, zunächst die directen im Unterschiede <lb n="pvi_1326.003"/> von den indirecten, metaphorischen, bestehen und wie sie sich mit dem <lb n="pvi_1326.004"/> eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck mischen. Jn „Schäfers Klagelied“ <lb n="pvi_1326.005"/> hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Jnhalt ist, dem <lb n="pvi_1326.006"/> in Liebesweh gebrochenen Herzen; er <hi rendition="#g">zeigt</hi> uns, wie er tausendmal an den <lb n="pvi_1326.007"/> Stab gebogen auf dem Berge steht, in das Thal hinabschaut, wie er in <lb n="pvi_1326.008"/> dunkler Bewußtlosigkeit hinabsteigt, die wenigen Worte „und weiß doch <lb n="pvi_1326.009"/> selber nicht wie“ lassen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anschauungsbild <lb n="pvi_1326.010"/> nur dient, um einen Zustand der tiefsten Versenkung des Gemüthslebens <lb n="pvi_1326.011"/> zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens <lb n="pvi_1326.012"/> in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund <lb n="pvi_1326.013"/> des innern Leidens mit den Worten: sie aber ist weggezogen u. s. w., und <lb n="pvi_1326.014"/> nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zustandes <lb n="pvi_1326.015"/> anfangen werde, bringt das Gedicht zunächst noch einen äußern Zug: <lb n="pvi_1326.016"/> „vorüber, ihr Schafe, vorüber“ und hat zum Schlusse nur Ein directes <lb n="pvi_1326.017"/> Wort für das, was Jnhalt des Ganzen ist: „dem Schäfer ist gar so weh!“ <lb n="pvi_1326.018"/> Mignon haucht ihre Sehnsucht nach dem schönen Heimathlande in Anschauungen <lb n="pvi_1326.019"/> Jtaliens aus, nur im Refrain bricht sie ausdrücklich durch, aber <lb n="pvi_1326.020"/> auch nicht rein direct, sondern als ein Wunsch, dahin zu ziehen, der eigentlich <lb n="pvi_1326.021"/> wieder ein Bild enthält. Gretchen im Faust sagt uns in den Strophen, die <lb n="pvi_1326.022"/> sie am Spinnrade singt, wie sie nur nach dem Geliebten aus dem Fenster <lb n="pvi_1326.023"/> schaut, aus dem Hause geht, schildert dann seine herrliche Erscheinung und <lb n="pvi_1326.024"/> schließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie sich Herz und Phantasie <lb n="pvi_1326.025"/> danach drängt, sie spricht so die unendliche Sehnsucht in lauter Anschauungsbildern <lb n="pvi_1326.026"/> aus; in jenem Liede des tiefsten Weh's, das sich als Gebet an die <lb n="pvi_1326.027"/> Maria wendet, zeichnet sie in wenigen Zügen zuerst das Bild der vom <lb n="pvi_1326.028"/> Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem <lb n="pvi_1326.029"/> sie kniet, sie erzählt nachher (wir sehen von den andern Strophen noch ab), <lb n="pvi_1326.030"/> wie sie die Blumenscherben mit Thränen bethaute, als sie Morgens die <lb n="pvi_1326.031"/> Blumen brach, die sie vor dem Bilde niederlegt, sie schildert, wie sie vor <lb n="pvi_1326.032"/> Aufgang der Sonne in ihrem Jammer schon aufgerichtet im Bette saß. <lb n="pvi_1326.033"/> Werther, ächt lyrisch, kann uns nur sagen, wie ihm die Augen der Geliebten <lb n="pvi_1326.034"/> vor der Stirne brennen: „hier, wenn ich die Augen schließe, hier in <lb n="pvi_1326.035"/> meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen <lb n="pvi_1326.036"/> Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen <lb n="pvi_1326.037"/> zu, so sind sie da; wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die <lb n="pvi_1326.038"/> Sinne meiner Stirn.“ Es unterscheiden sich aus diesen Beispielen bereits <lb n="pvi_1326.039"/> zweierlei Formen der objectiven Anschauung: das lyrische Subject führt uns <lb n="pvi_1326.040"/> erzählend, schildernd äußere Objecte vor, aber auch sein eigenes Bild, indem <lb n="pvi_1326.041"/> es sich vor seine und unsere Phantasie in einem bestimmten Zustand </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1326/0188]
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Lyriker seine subjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen pvi_1326.002
Beispielen, worin diese Anschauungsbilder, zunächst die directen im Unterschiede pvi_1326.003
von den indirecten, metaphorischen, bestehen und wie sie sich mit dem pvi_1326.004
eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck mischen. Jn „Schäfers Klagelied“ pvi_1326.005
hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Jnhalt ist, dem pvi_1326.006
in Liebesweh gebrochenen Herzen; er zeigt uns, wie er tausendmal an den pvi_1326.007
Stab gebogen auf dem Berge steht, in das Thal hinabschaut, wie er in pvi_1326.008
dunkler Bewußtlosigkeit hinabsteigt, die wenigen Worte „und weiß doch pvi_1326.009
selber nicht wie“ lassen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anschauungsbild pvi_1326.010
nur dient, um einen Zustand der tiefsten Versenkung des Gemüthslebens pvi_1326.011
zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens pvi_1326.012
in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund pvi_1326.013
des innern Leidens mit den Worten: sie aber ist weggezogen u. s. w., und pvi_1326.014
nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zustandes pvi_1326.015
anfangen werde, bringt das Gedicht zunächst noch einen äußern Zug: pvi_1326.016
„vorüber, ihr Schafe, vorüber“ und hat zum Schlusse nur Ein directes pvi_1326.017
Wort für das, was Jnhalt des Ganzen ist: „dem Schäfer ist gar so weh!“ pvi_1326.018
Mignon haucht ihre Sehnsucht nach dem schönen Heimathlande in Anschauungen pvi_1326.019
Jtaliens aus, nur im Refrain bricht sie ausdrücklich durch, aber pvi_1326.020
auch nicht rein direct, sondern als ein Wunsch, dahin zu ziehen, der eigentlich pvi_1326.021
wieder ein Bild enthält. Gretchen im Faust sagt uns in den Strophen, die pvi_1326.022
sie am Spinnrade singt, wie sie nur nach dem Geliebten aus dem Fenster pvi_1326.023
schaut, aus dem Hause geht, schildert dann seine herrliche Erscheinung und pvi_1326.024
schließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie sich Herz und Phantasie pvi_1326.025
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aus; in jenem Liede des tiefsten Weh's, das sich als Gebet an die pvi_1326.027
Maria wendet, zeichnet sie in wenigen Zügen zuerst das Bild der vom pvi_1326.028
Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem pvi_1326.029
sie kniet, sie erzählt nachher (wir sehen von den andern Strophen noch ab), pvi_1326.030
wie sie die Blumenscherben mit Thränen bethaute, als sie Morgens die pvi_1326.031
Blumen brach, die sie vor dem Bilde niederlegt, sie schildert, wie sie vor pvi_1326.032
Aufgang der Sonne in ihrem Jammer schon aufgerichtet im Bette saß. pvi_1326.033
Werther, ächt lyrisch, kann uns nur sagen, wie ihm die Augen der Geliebten pvi_1326.034
vor der Stirne brennen: „hier, wenn ich die Augen schließe, hier in pvi_1326.035
meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen pvi_1326.036
Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen pvi_1326.037
zu, so sind sie da; wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die pvi_1326.038
Sinne meiner Stirn.“ Es unterscheiden sich aus diesen Beispielen bereits pvi_1326.039
zweierlei Formen der objectiven Anschauung: das lyrische Subject führt uns pvi_1326.040
erzählend, schildernd äußere Objecte vor, aber auch sein eigenes Bild, indem pvi_1326.041
es sich vor seine und unsere Phantasie in einem bestimmten Zustand
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