Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1297.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0159" n="1297"/><lb n="pvi_1297.001"/> Maaßstab des ursprünglichen, gediegenen, idealen Epos stellt; denn dieses <lb n="pvi_1297.002"/> fordert eine Welt, die in solcher Weise noch nicht innerlich, nicht sentimental <lb n="pvi_1297.003"/> ist, kennt kein vorwiegend psychologisches Jnteresse. Soll ein solches leitend <lb n="pvi_1297.004"/> werden in der epischen Poesie, so ist eine andere Welt vorausgesetzt, die <lb n="pvi_1297.005"/> Welt der Bildung, der Erfahrung, die moderne Welt; die Liebe wird nun <lb n="pvi_1297.006"/> zum Bande, woran die Metamorphosen der persönlichen Charakter-Entwicklung <lb n="pvi_1297.007"/> sich verlaufen. Dazu nimmt das ritterlich=höfische Epos wohl einen <lb n="pvi_1297.008"/> Anlauf, aber ohne Consequenz, denn ihm fehlen ja die modernen Bildungsbedingungen, <lb n="pvi_1297.009"/> es ist phantastisch. So schwebt es unsicher zwischen ächtem <lb n="pvi_1297.010"/> Epos und Roman, ist nicht ganz mehr jenes und noch nicht ganz dieser. <lb n="pvi_1297.011"/> Aehnlich amphibolisch verhält es sich mit der Form. Die adelichen Dichter <lb n="pvi_1297.012"/> verachten die einheimische Heldensage und den Volksgesang, wissen sich <lb n="pvi_1297.013"/> viel mit ihrer Kenntniß der ausländischen Stoffe und Muster, mit ihrer <lb n="pvi_1297.014"/> Kunst und setzen ihren Namen mit voller Bewußtheit an die Spitze ihrer <lb n="pvi_1297.015"/> Werke. Daher nennt man diese Gedichte Kunst-Epen im Vergleiche mit jenen <lb n="pvi_1297.016"/> Heldengedichten der rein nationalen Volksdichtung. Allein nur ganz relativ <lb n="pvi_1297.017"/> im Gegensatze gegen jene unzweifelhafte Volkspoesie können sie so genannt <lb n="pvi_1297.018"/> werden, von reifer Kunstpoesie ist nicht die Rede, dieser Gegensatz selbst ist <lb n="pvi_1297.019"/> eigentlich mehr im Bewußtsein, als im Können und Ausführen; Tugenden <lb n="pvi_1297.020"/> und Mängel der Volkspoesie hängen dieser ritterlichen Dichtung noch an, <lb n="pvi_1297.021"/> während sie doch auf den Boden, dem sie entwachsen zu sein meint, vornehm <lb n="pvi_1297.022"/> herabsieht. Der Dichter glaubt naiv an seinen Stoff und wundert <lb n="pvi_1297.023"/> sich kindlich über die weite Welt mit all' ihren schönen Dingen, aber <lb n="pvi_1297.024"/> während von der andern Seite allerdings der Künstler in ihm sich nach <lb n="pvi_1297.025"/> Kräften regt und namentlich die deutschen Meister, der tiefsinnige Wolfram <lb n="pvi_1297.026"/> von Eschenbach und der heitere, freie, leichtfertige, seelenkundige Gottfried <lb n="pvi_1297.027"/> von Straßburg die schweren Massen der nordfranzösischen Gedichte zu durchsichtigerer <lb n="pvi_1297.028"/> Einheit verarbeiten, wird doch das Stoffartige keineswegs durchgreifend <lb n="pvi_1297.029"/> überwunden, sondern lagern sich zwischen das grüne Land breite <lb n="pvi_1297.030"/> Wüsten, bald öde, bald durch Ueberfruchtung mit blinden Abentheuern und <lb n="pvi_1297.031"/> wirrem Schlachtengedräng ein Zerrbild ächter epischer Fülle, in beiden <lb n="pvi_1297.032"/> Fällen ermüdend, und nach der rhythmischen Seite findet das platt eintönige <lb n="pvi_1297.033"/> Fortlaufen in den monotonen Reimpaaren seinen Ausdruck. Es ist nicht <lb n="pvi_1297.034"/> zu läugnen, daß die Langweiligkeit ein Grundzug dieser Producte ist, daß <lb n="pvi_1297.035"/> man an diesem fortplätschernden Brunnenrohr sich schwer des Einnickens <lb n="pvi_1297.036"/> erwehrt. So sind diese Dichter neben den Ansätzen zu bewußter Kunst <lb n="pvi_1297.037"/> und Resten ächter Naivetät noch naiv auch im übeln, dürftigen, kindischen <lb n="pvi_1297.038"/> Sinne des Worts, formlos, barbarisch. Der Form-Mangel hängt immer <lb n="pvi_1297.039"/> wieder mit dem des Jnhalts zusammen und hier ist wesentlich noch zu <lb n="pvi_1297.040"/> sagen, daß der Aufgang des Subjectiven zu träumerische Gestalt hat, um <lb n="pvi_1297.041"/> an die Stelle der substantiellen Einfalt eine lichte, sittliche Ordnung zu </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1297/0159]
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Maaßstab des ursprünglichen, gediegenen, idealen Epos stellt; denn dieses pvi_1297.002
fordert eine Welt, die in solcher Weise noch nicht innerlich, nicht sentimental pvi_1297.003
ist, kennt kein vorwiegend psychologisches Jnteresse. Soll ein solches leitend pvi_1297.004
werden in der epischen Poesie, so ist eine andere Welt vorausgesetzt, die pvi_1297.005
Welt der Bildung, der Erfahrung, die moderne Welt; die Liebe wird nun pvi_1297.006
zum Bande, woran die Metamorphosen der persönlichen Charakter-Entwicklung pvi_1297.007
sich verlaufen. Dazu nimmt das ritterlich=höfische Epos wohl einen pvi_1297.008
Anlauf, aber ohne Consequenz, denn ihm fehlen ja die modernen Bildungsbedingungen, pvi_1297.009
es ist phantastisch. So schwebt es unsicher zwischen ächtem pvi_1297.010
Epos und Roman, ist nicht ganz mehr jenes und noch nicht ganz dieser. pvi_1297.011
Aehnlich amphibolisch verhält es sich mit der Form. Die adelichen Dichter pvi_1297.012
verachten die einheimische Heldensage und den Volksgesang, wissen sich pvi_1297.013
viel mit ihrer Kenntniß der ausländischen Stoffe und Muster, mit ihrer pvi_1297.014
Kunst und setzen ihren Namen mit voller Bewußtheit an die Spitze ihrer pvi_1297.015
Werke. Daher nennt man diese Gedichte Kunst-Epen im Vergleiche mit jenen pvi_1297.016
Heldengedichten der rein nationalen Volksdichtung. Allein nur ganz relativ pvi_1297.017
im Gegensatze gegen jene unzweifelhafte Volkspoesie können sie so genannt pvi_1297.018
werden, von reifer Kunstpoesie ist nicht die Rede, dieser Gegensatz selbst ist pvi_1297.019
eigentlich mehr im Bewußtsein, als im Können und Ausführen; Tugenden pvi_1297.020
und Mängel der Volkspoesie hängen dieser ritterlichen Dichtung noch an, pvi_1297.021
während sie doch auf den Boden, dem sie entwachsen zu sein meint, vornehm pvi_1297.022
herabsieht. Der Dichter glaubt naiv an seinen Stoff und wundert pvi_1297.023
sich kindlich über die weite Welt mit all' ihren schönen Dingen, aber pvi_1297.024
während von der andern Seite allerdings der Künstler in ihm sich nach pvi_1297.025
Kräften regt und namentlich die deutschen Meister, der tiefsinnige Wolfram pvi_1297.026
von Eschenbach und der heitere, freie, leichtfertige, seelenkundige Gottfried pvi_1297.027
von Straßburg die schweren Massen der nordfranzösischen Gedichte zu durchsichtigerer pvi_1297.028
Einheit verarbeiten, wird doch das Stoffartige keineswegs durchgreifend pvi_1297.029
überwunden, sondern lagern sich zwischen das grüne Land breite pvi_1297.030
Wüsten, bald öde, bald durch Ueberfruchtung mit blinden Abentheuern und pvi_1297.031
wirrem Schlachtengedräng ein Zerrbild ächter epischer Fülle, in beiden pvi_1297.032
Fällen ermüdend, und nach der rhythmischen Seite findet das platt eintönige pvi_1297.033
Fortlaufen in den monotonen Reimpaaren seinen Ausdruck. Es ist nicht pvi_1297.034
zu läugnen, daß die Langweiligkeit ein Grundzug dieser Producte ist, daß pvi_1297.035
man an diesem fortplätschernden Brunnenrohr sich schwer des Einnickens pvi_1297.036
erwehrt. So sind diese Dichter neben den Ansätzen zu bewußter Kunst pvi_1297.037
und Resten ächter Naivetät noch naiv auch im übeln, dürftigen, kindischen pvi_1297.038
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wieder mit dem des Jnhalts zusammen und hier ist wesentlich noch zu pvi_1297.040
sagen, daß der Aufgang des Subjectiven zu träumerische Gestalt hat, um pvi_1297.041
an die Stelle der substantiellen Einfalt eine lichte, sittliche Ordnung zu
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