pvi_1285.001 freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich pvi_1285.002 auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende pvi_1285.003 Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck pvi_1285.004 für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den pvi_1285.005 andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und pvi_1285.006 Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des pvi_1285.007 hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner pvi_1285.008 Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe pvi_1285.009 Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns pvi_1285.010 aufzutreten scheinen. - Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, pvi_1285.011 richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck pvi_1285.012 des §.: "es scheint zunächst" wird im Fortgang zu den weiteren Formen pvi_1285.013 seine Erledigung finden.
pvi_1285.014
2. Die Arten der epischen Poesie.
pvi_1285.015
§. 872.
pvi_1285.016
Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen pvi_1285.017 auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher pvi_1285.018 Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte pvi_1285.019 aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne pvi_1285.020 Roman. Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, pvi_1285.021 trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der pvi_1285.022 Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und pvi_1285.023 selbständiger Ausdruck eines Styls.
pvi_1285.024
Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick pvi_1285.025 paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.
pvi_1285.026
§. 873.
pvi_1285.027
Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der1.pvi_1285.028 Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in pvi_1285.029 das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung2.pvi_1285.030 da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe pvi_1285.031 der Sache zusammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche pvi_1285.032 ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste pvi_1285.033 da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch pvi_1285.034 ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat,
pvi_1285.001 freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich pvi_1285.002 auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende pvi_1285.003 Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck pvi_1285.004 für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den pvi_1285.005 andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und pvi_1285.006 Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des pvi_1285.007 hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner pvi_1285.008 Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe pvi_1285.009 Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns pvi_1285.010 aufzutreten scheinen. – Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, pvi_1285.011 richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck pvi_1285.012 des §.: „es scheint zunächst“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen pvi_1285.013 seine Erledigung finden.
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pvi_1285.015
§. 872.
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Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen pvi_1285.017 auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher pvi_1285.018 Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte pvi_1285.019 aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne pvi_1285.020 Roman. Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, pvi_1285.021 trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der pvi_1285.022 Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und pvi_1285.023 selbständiger Ausdruck eines Styls.
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Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick pvi_1285.025 paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.
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§. 873.
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Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der1.pvi_1285.028 Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in pvi_1285.029 das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung2.pvi_1285.030 da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe pvi_1285.031 der Sache zusammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche pvi_1285.032 ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste pvi_1285.033 da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch pvi_1285.034 ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat,
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/147>, abgerufen am 20.07.2024.
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