pvi_1275.001 aber jene Stimme der Wehmuth immer ein wesentliches Moment des Epos pvi_1275.002 bleiben, der glückliche Schluß überall die dunkle Folie eines tragischen Hintergrundes pvi_1275.003 haben, wie der Sieg des Achilles den Tod Hektors, den Fall pvi_1275.004 Troja's, den bevorstehenden eigenen frühen Untergang, der Sieg des Odysseus pvi_1275.005 eine lange Leidenszeit des Helden selbst und die furchtbaren Schicksale pvi_1275.006 der anderen Kämpfer vor Troja und ihrer Häuser. Es ist jedoch auch pvi_1275.007 tragischer Schluß durch den Charakter des epischen Weltbildes nicht ausgeschlossen: pvi_1275.008 das Tragische des Conflicts gehört nicht dem Drama allein an, pvi_1275.009 es kann auch in Zuständen seine Rolle spielen, die übrigens naive Culturform pvi_1275.010 haben und in denen keine bewußten Kämpfe um Prinzipien geführt pvi_1275.011 werden. Wir kommen darauf bei dem Nibelungenliede zurück.
pvi_1275.012
§. 869.
pvi_1275.013
Der Dichter schwebt über diesem großen Stoffe mit dem Gleichmuthe1.pvi_1275.014 der parteilosen Betrachtung, den der Standpunct der Allgemeinheit mit sich pvi_1275.015 bringt, und mit der milden Jronie, welche die Begeisterung nicht ausschließt. pvi_1275.016 Jndem diese Grundstimmung mit der Aufgabe, das Geschäft der bildenden Kunst pvi_1275.017 in der Form der Poesie zu übernehmen, sich vereinigt, bestimmt sich das Stylgesetzpvi_1275.018 des epischen Dichters dahin, daß er mit der Ruhe der Gegenständlichkeit pvi_1275.019 die Dinge als gediegene Gestaltungen des Seins mehr in ihrer Erscheinung, pvi_1275.020 als in ihrem innern Geheimniß und ihrer Wirkung auf das Jnnere schildern, pvi_1275.021 daß er nicht stoßweise, sondern stetig, Eines aus dem Andern entwickelnd fortschreiten pvi_1275.022 soll. Er hat durch die Ausführlichkeit seines Verweilens zu zeigen, pvi_1275.023 daß hier der Zweck in jedem Puncte der Bewegung selbst liegt. Der gemessenen,2.pvi_1275.024 breiten, ruhig großartigen Fortbewegung hat die äußere Sprachform den gemäßen pvi_1275.025 rhythmischen Ausdruck zu geben.
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1. Wir sind zu dem Dichter übergegangen und begründen jene Grundstimmung pvi_1275.027 der contemplativen Ruhe mit Schiller (a. a. O. S. 388) einfach pvi_1275.028 darauf, daß sich derselbe um die Begebenheit als eine vollendete bewegt, pvi_1275.029 daß sie ihm nicht entlaufen kann, daß er schon im Anfang und in der pvi_1275.030 Mitte das Ende weiß. Daher keine Aufregung, daher die ruhige Freiheit pvi_1275.031 des Gemüths, das wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint pvi_1275.032 und sein Licht mit parteiloser Gleichheit vertheilt. Ob naiv oder bewußt, pvi_1275.033 Volks- oder Kunstdichter, er wird eben, weil er Alles mit gleicher Liebe pvi_1275.034 umfaßt, selbst dem Bösen und Schlechten nicht zürnt, da es doch ein pvi_1275.035 Ferment der geschichtlichen Bewegung ist, am Guten, Tüchtigen, Gesunden, pvi_1275.036 Großen seine Herzensfreude hat, ohne doch seine Schwächen zu übersehen, pvi_1275.037 im milden Sinne des Worts immer ironisch sein, man wird ein Gefühl pvi_1275.038 haben, als ob ein feines Lächeln, weit entfernt von jeder hohlen Eitelkeit
pvi_1275.001 aber jene Stimme der Wehmuth immer ein wesentliches Moment des Epos pvi_1275.002 bleiben, der glückliche Schluß überall die dunkle Folie eines tragischen Hintergrundes pvi_1275.003 haben, wie der Sieg des Achilles den Tod Hektors, den Fall pvi_1275.004 Troja's, den bevorstehenden eigenen frühen Untergang, der Sieg des Odysseus pvi_1275.005 eine lange Leidenszeit des Helden selbst und die furchtbaren Schicksale pvi_1275.006 der anderen Kämpfer vor Troja und ihrer Häuser. Es ist jedoch auch pvi_1275.007 tragischer Schluß durch den Charakter des epischen Weltbildes nicht ausgeschlossen: pvi_1275.008 das Tragische des Conflicts gehört nicht dem Drama allein an, pvi_1275.009 es kann auch in Zuständen seine Rolle spielen, die übrigens naive Culturform pvi_1275.010 haben und in denen keine bewußten Kämpfe um Prinzipien geführt pvi_1275.011 werden. Wir kommen darauf bei dem Nibelungenliede zurück.
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Der Dichter schwebt über diesem großen Stoffe mit dem Gleichmuthe1.pvi_1275.014 der parteilosen Betrachtung, den der Standpunct der Allgemeinheit mit sich pvi_1275.015 bringt, und mit der milden Jronie, welche die Begeisterung nicht ausschließt. pvi_1275.016 Jndem diese Grundstimmung mit der Aufgabe, das Geschäft der bildenden Kunst pvi_1275.017 in der Form der Poesie zu übernehmen, sich vereinigt, bestimmt sich das Stylgesetzpvi_1275.018 des epischen Dichters dahin, daß er mit der Ruhe der Gegenständlichkeit pvi_1275.019 die Dinge als gediegene Gestaltungen des Seins mehr in ihrer Erscheinung, pvi_1275.020 als in ihrem innern Geheimniß und ihrer Wirkung auf das Jnnere schildern, pvi_1275.021 daß er nicht stoßweise, sondern stetig, Eines aus dem Andern entwickelnd fortschreiten pvi_1275.022 soll. Er hat durch die Ausführlichkeit seines Verweilens zu zeigen, pvi_1275.023 daß hier der Zweck in jedem Puncte der Bewegung selbst liegt. Der gemessenen,2.pvi_1275.024 breiten, ruhig großartigen Fortbewegung hat die äußere Sprachform den gemäßen pvi_1275.025 rhythmischen Ausdruck zu geben.
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1. Wir sind zu dem Dichter übergegangen und begründen jene Grundstimmung pvi_1275.027 der contemplativen Ruhe mit Schiller (a. a. O. S. 388) einfach pvi_1275.028 darauf, daß sich derselbe um die Begebenheit als eine vollendete bewegt, pvi_1275.029 daß sie ihm nicht entlaufen kann, daß er schon im Anfang und in der pvi_1275.030 Mitte das Ende weiß. Daher keine Aufregung, daher die ruhige Freiheit pvi_1275.031 des Gemüths, das wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint pvi_1275.032 und sein Licht mit parteiloser Gleichheit vertheilt. Ob naiv oder bewußt, pvi_1275.033 Volks- oder Kunstdichter, er wird eben, weil er Alles mit gleicher Liebe pvi_1275.034 umfaßt, selbst dem Bösen und Schlechten nicht zürnt, da es doch ein pvi_1275.035 Ferment der geschichtlichen Bewegung ist, am Guten, Tüchtigen, Gesunden, pvi_1275.036 Großen seine Herzensfreude hat, ohne doch seine Schwächen zu übersehen, pvi_1275.037 im milden Sinne des Worts immer ironisch sein, man wird ein Gefühl pvi_1275.038 haben, als ob ein feines Lächeln, weit entfernt von jeder hohlen Eitelkeit
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/137>, abgerufen am 19.07.2024.
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