pvi_1250.001 sicher und fest vordringt und nach diesem entschiedenen Anfang dem pvi_1250.002 Leichten und Beweglichen, doch in ruhiger Gleichmessung, sich zu entfalten pvi_1250.003 gönnt: der Vers des würdigen, gehaltenen Fortschritts im Epos, der aber pvi_1250.004 auch mit dem Spondäus wechseln kann, welcher mit seinen zwei ernsten pvi_1250.005 Längen keine leichtere, hellere Empfindung zuläßt, sondern die Stimmung pvi_1250.006 tief, dunkel und schwer im Grunde des substantiell Gebundenen, des Erhabenen pvi_1250.007 zurückhält.
pvi_1250.008
Dieses rhythmische System ist natürlich nur durch seine Anwendung pvi_1250.009 auf den Sprachkörper mit seinen Längen und Kürzen zugleich ein metrisches. pvi_1250.010 Aber, obwohl in dieser Anwendung entstanden, ist es doch ein System für pvi_1250.011 sich, ein idealer Bau, von dem wie von keinem andern rhythmischen Style pvi_1250.012 gilt, was in §. 855 gesagt ist: ein künstliches System wölbe sich über das pvi_1250.013 Sprachmaterial her. Dieß findet seinen entschiedensten Ausdruck darin, daß, pvi_1250.014 wie öfter bemerkt, hier dem Vers-Accente und dem Metrum der Wort= pvi_1250.015 Accent rein geopfert wird: eine Vollkommenheit und ebensosehr eine große pvi_1250.016 Unvollkommenheit, genau wie in der Sculptur die Vollkommenheit der pvi_1250.017 reinen Nachbildung der Form mit der tiefen Unvollkommenheit Eines ist, pvi_1250.018 daß die Accente der Farbe, des seelenvollen Schimmers im Auge, der pvi_1250.019 ganzen Welt kleinerer, aber charaktervoller Bewegungen wegfallen. Hier pvi_1250.020 ist denn die rhythmische Gestalt eine Schönheit für sich, erfreut und befriedigt pvi_1250.021 auch bei geringerem Werthe des Sprach-Jnhalts und setzt hiefür pvi_1250.022 jenes unendlich feine Gehör voraus, das dem classischen Alterthum eigen pvi_1250.023 war und selbst in Rom dem Redner wegen eines schlechten Tonfalls in pvi_1250.024 seiner Prosa ein Zischen, wegen eines schönen einen Sturm des Beifalls pvi_1250.025 bereitete. Jn dieser Selbständigkeit des rhythmisch Schönen hatte es auch pvi_1250.026 seinen Grund, daß das Band mit dem eigentlich musikalischen Vortrage pvi_1250.027 nicht aufgelöst war und daß sich hiezu bei den kunstreicheren Formen der pvi_1250.028 gehobensten, feierlichsten Lyrik das zweite, der Tanz, gesellte. Es ist in pvi_1250.029 dem Anhang über die Tanzkunst von der uns völlig verlorenen Form die pvi_1250.030 Rede gewesen, welche die rhythmische Schönheit durch Massenbewegung pvi_1250.031 räumlich objectivirte, als Figur projicirte, s. §. 833.
pvi_1250.032
§. 860.
pvi_1250.033 1.
Dagegen ist der, in seiner reinen Ausbildung nur der germanischenpvi_1250.034 Dichtung eigene, charakteristische Styl ursprünglich ein System von Accenten, pvi_1250.035 das mit der Quantität nichts zu thun hat; der Vers-Accent fällt mit dem pvi_1250.036 Wort-Accente zusammen und heißt Hebung, das Verhältniß der unbetonten pvi_1250.037 Sylben, d. h. der Senkungen hat kein Gesetz. Jn dieser Rhythmik, worin pvi_1250.038 also nicht gemessen, nur gewogen wird, herrscht hiemit der Begriff, der Aus- pvi_1250.039 2.druck. Jm Verlaufe hat sich die deutsche Dichtkunst das Classische in der
pvi_1250.001 sicher und fest vordringt und nach diesem entschiedenen Anfang dem pvi_1250.002 Leichten und Beweglichen, doch in ruhiger Gleichmessung, sich zu entfalten pvi_1250.003 gönnt: der Vers des würdigen, gehaltenen Fortschritts im Epos, der aber pvi_1250.004 auch mit dem Spondäus wechseln kann, welcher mit seinen zwei ernsten pvi_1250.005 Längen keine leichtere, hellere Empfindung zuläßt, sondern die Stimmung pvi_1250.006 tief, dunkel und schwer im Grunde des substantiell Gebundenen, des Erhabenen pvi_1250.007 zurückhält.
pvi_1250.008
Dieses rhythmische System ist natürlich nur durch seine Anwendung pvi_1250.009 auf den Sprachkörper mit seinen Längen und Kürzen zugleich ein metrisches. pvi_1250.010 Aber, obwohl in dieser Anwendung entstanden, ist es doch ein System für pvi_1250.011 sich, ein idealer Bau, von dem wie von keinem andern rhythmischen Style pvi_1250.012 gilt, was in §. 855 gesagt ist: ein künstliches System wölbe sich über das pvi_1250.013 Sprachmaterial her. Dieß findet seinen entschiedensten Ausdruck darin, daß, pvi_1250.014 wie öfter bemerkt, hier dem Vers-Accente und dem Metrum der Wort= pvi_1250.015 Accent rein geopfert wird: eine Vollkommenheit und ebensosehr eine große pvi_1250.016 Unvollkommenheit, genau wie in der Sculptur die Vollkommenheit der pvi_1250.017 reinen Nachbildung der Form mit der tiefen Unvollkommenheit Eines ist, pvi_1250.018 daß die Accente der Farbe, des seelenvollen Schimmers im Auge, der pvi_1250.019 ganzen Welt kleinerer, aber charaktervoller Bewegungen wegfallen. Hier pvi_1250.020 ist denn die rhythmische Gestalt eine Schönheit für sich, erfreut und befriedigt pvi_1250.021 auch bei geringerem Werthe des Sprach-Jnhalts und setzt hiefür pvi_1250.022 jenes unendlich feine Gehör voraus, das dem classischen Alterthum eigen pvi_1250.023 war und selbst in Rom dem Redner wegen eines schlechten Tonfalls in pvi_1250.024 seiner Prosa ein Zischen, wegen eines schönen einen Sturm des Beifalls pvi_1250.025 bereitete. Jn dieser Selbständigkeit des rhythmisch Schönen hatte es auch pvi_1250.026 seinen Grund, daß das Band mit dem eigentlich musikalischen Vortrage pvi_1250.027 nicht aufgelöst war und daß sich hiezu bei den kunstreicheren Formen der pvi_1250.028 gehobensten, feierlichsten Lyrik das zweite, der Tanz, gesellte. Es ist in pvi_1250.029 dem Anhang über die Tanzkunst von der uns völlig verlorenen Form die pvi_1250.030 Rede gewesen, welche die rhythmische Schönheit durch Massenbewegung pvi_1250.031 räumlich objectivirte, als Figur projicirte, s. §. 833.
pvi_1250.032
§. 860.
pvi_1250.033 1.
Dagegen ist der, in seiner reinen Ausbildung nur der germanischenpvi_1250.034 Dichtung eigene, charakteristische Styl ursprünglich ein System von Accenten, pvi_1250.035 das mit der Quantität nichts zu thun hat; der Vers-Accent fällt mit dem pvi_1250.036 Wort-Accente zusammen und heißt Hebung, das Verhältniß der unbetonten pvi_1250.037 Sylben, d. h. der Senkungen hat kein Gesetz. Jn dieser Rhythmik, worin pvi_1250.038 also nicht gemessen, nur gewogen wird, herrscht hiemit der Begriff, der Aus- pvi_1250.039 2.druck. Jm Verlaufe hat sich die deutsche Dichtkunst das Classische in der
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/112>, abgerufen am 17.07.2024.
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