pvi_1241.001 nichts zu schaffen. Das Band zwischen ihr und der Sprache pvi_1241.002 kann ein engeres oder freieres sein; die deutsche Rhythmik entnimmt den pvi_1241.003 Unterschied der Stärke und Schwäche aus dieser, die antike that es pvi_1241.004 nicht; allein der Satz, daß die Rhythmik nur in der Sprache realisirt pvi_1241.005 werden kann, bedarf der Verstärkung durch die erstere Thatsache nicht, er pvi_1241.006 steht fest auch bei dem antiken Verhältniß, wogegen in der Musik, wenn pvi_1241.007 sie sich mit der Sprache verbindet, diese durchaus nicht die Bedeutung eines pvi_1241.008 Vehikels hat, dessen die bestimmende Kunstgattung bedarf, um zu existiren. pvi_1241.009 Die Füllung, die der Rhythmus durch seine Realisirung in der Sprache pvi_1241.010 erhält, bringt nun aber dennoch Elemente hinzu, welche näher oder entfernter pvi_1241.011 dem Musikalischen entsprechen. Den Sprachlauten ist nicht alle pvi_1241.012 Reminiscenz, daß sie ursprünglich das Gefühl des Gegenstands, des Tiefen, pvi_1241.013 Dunkeln, Dumpfen, Hohen, Hellen, Offenen, Herben, Sanften, Geschlossenen, pvi_1241.014 Freudigen, Schmerzlichen u. s. w. ausdrückten, verloren gegangen, pvi_1241.015 man mag dieß zunächst mit der Klangfarbe vergleichen; die Vocale sprechen pvi_1241.016 sich zudem an sich in bestimmten Unterschieden der Höhe und Tiefe aus und pvi_1241.017 eine neue Welt von Musik=ähnlichen Modificationen bringt (vom eigentlich pvi_1241.018 musikalischen Vortrag hier natürlich abgesehen) die Declamation hinzu: pvi_1241.019 Belebungen, die theils der Scala, theils jenem Unterschiede der Stärkung pvi_1241.020 oder Schwächung des einzelnen Tones angehören, der vom Takt-Accente pvi_1241.021 wohl zu unterscheiden ist, theils der Beschleunigung oder Hemmung im pvi_1241.022 Tempo entsprechen; die Wiederkehr des Verses endlich und besonders die pvi_1241.023 des symmetrischen Wechsels in der Strophe wird zwar nur successiv vernommen, pvi_1241.024 aber das innere Gehör faßt das Nacheinander doch wie in ein pvi_1241.025 gleichzeitiges Tönen zusammen und dadurch nähert sich der Eindruck entfernt pvi_1241.026 dem Gefühle der musikalischen Harmonie. Diese Anklänge an die Musik pvi_1241.027 verstärken sich, wo die Rhythmik sich mit dem Reime verbindet; doch hängt pvi_1241.028 damit Verlust auf der andern Seite zusammen, wie sich zeigen wird.
pvi_1241.029
§. 857.
pvi_1241.030
Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung pvi_1241.031 wie die Musik, sondern des zur bewußten Vorstellung entwickelten Jnhalts der pvi_1241.032 Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über diese Scheidung fortdauert pvi_1241.033 und seinen Ausdruck in der rhythmischen Form findet. Diese Seite ist pvi_1241.034 aber ebendaher darauf eingeschränkt, daß nicht das Ganze der Stimmung, pvi_1241.035 daher auch nicht ihr individueller Wechsel, sondern nur ihre allgemeine Gang- pvi_1241.036 Art in der gemessenen äußern Kunstform sich Gestalt geben kann. Denn obwohl pvi_1241.037 die gleichförmige Wiederkehr von dem einfachen Fortgang im Verse zum pvi_1241.038 geregelten Wechsel von zwei ungleichen Versen und weiter zu der symmetrischen pvi_1241.039 Zusammenstellung mehrerer verschiedener Verse in der Strophe, ja zur
pvi_1241.001 nichts zu schaffen. Das Band zwischen ihr und der Sprache pvi_1241.002 kann ein engeres oder freieres sein; die deutsche Rhythmik entnimmt den pvi_1241.003 Unterschied der Stärke und Schwäche aus dieser, die antike that es pvi_1241.004 nicht; allein der Satz, daß die Rhythmik nur in der Sprache realisirt pvi_1241.005 werden kann, bedarf der Verstärkung durch die erstere Thatsache nicht, er pvi_1241.006 steht fest auch bei dem antiken Verhältniß, wogegen in der Musik, wenn pvi_1241.007 sie sich mit der Sprache verbindet, diese durchaus nicht die Bedeutung eines pvi_1241.008 Vehikels hat, dessen die bestimmende Kunstgattung bedarf, um zu existiren. pvi_1241.009 Die Füllung, die der Rhythmus durch seine Realisirung in der Sprache pvi_1241.010 erhält, bringt nun aber dennoch Elemente hinzu, welche näher oder entfernter pvi_1241.011 dem Musikalischen entsprechen. Den Sprachlauten ist nicht alle pvi_1241.012 Reminiscenz, daß sie ursprünglich das Gefühl des Gegenstands, des Tiefen, pvi_1241.013 Dunkeln, Dumpfen, Hohen, Hellen, Offenen, Herben, Sanften, Geschlossenen, pvi_1241.014 Freudigen, Schmerzlichen u. s. w. ausdrückten, verloren gegangen, pvi_1241.015 man mag dieß zunächst mit der Klangfarbe vergleichen; die Vocale sprechen pvi_1241.016 sich zudem an sich in bestimmten Unterschieden der Höhe und Tiefe aus und pvi_1241.017 eine neue Welt von Musik=ähnlichen Modificationen bringt (vom eigentlich pvi_1241.018 musikalischen Vortrag hier natürlich abgesehen) die Declamation hinzu: pvi_1241.019 Belebungen, die theils der Scala, theils jenem Unterschiede der Stärkung pvi_1241.020 oder Schwächung des einzelnen Tones angehören, der vom Takt-Accente pvi_1241.021 wohl zu unterscheiden ist, theils der Beschleunigung oder Hemmung im pvi_1241.022 Tempo entsprechen; die Wiederkehr des Verses endlich und besonders die pvi_1241.023 des symmetrischen Wechsels in der Strophe wird zwar nur successiv vernommen, pvi_1241.024 aber das innere Gehör faßt das Nacheinander doch wie in ein pvi_1241.025 gleichzeitiges Tönen zusammen und dadurch nähert sich der Eindruck entfernt pvi_1241.026 dem Gefühle der musikalischen Harmonie. Diese Anklänge an die Musik pvi_1241.027 verstärken sich, wo die Rhythmik sich mit dem Reime verbindet; doch hängt pvi_1241.028 damit Verlust auf der andern Seite zusammen, wie sich zeigen wird.
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Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung pvi_1241.031 wie die Musik, sondern des zur bewußten Vorstellung entwickelten Jnhalts der pvi_1241.032 Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über diese Scheidung fortdauert pvi_1241.033 und seinen Ausdruck in der rhythmischen Form findet. Diese Seite ist pvi_1241.034 aber ebendaher darauf eingeschränkt, daß nicht das Ganze der Stimmung, pvi_1241.035 daher auch nicht ihr individueller Wechsel, sondern nur ihre allgemeine Gang- pvi_1241.036 Art in der gemessenen äußern Kunstform sich Gestalt geben kann. Denn obwohl pvi_1241.037 die gleichförmige Wiederkehr von dem einfachen Fortgang im Verse zum pvi_1241.038 geregelten Wechsel von zwei ungleichen Versen und weiter zu der symmetrischen pvi_1241.039 Zusammenstellung mehrerer verschiedener Verse in der Strophe, ja zur
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Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung pvi_1241.031
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Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über diese Scheidung fortdauert pvi_1241.033
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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/103>, abgerufen am 16.07.2024.
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