Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1238.001 Der charakteristische Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem pvi_1238.014 §. 855. pvi_1238.035Der poetische Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt sich als pvi_1238.036
pvi_1238.001 Der charakteristische Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem pvi_1238.014 §. 855. pvi_1238.035Der poetische Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt sich als pvi_1238.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0100" n="1238"/><lb n="pvi_1238.001"/> Munde jeder seiner Personen dürfte der Dichter so wilde, rasch überspringende, <lb n="pvi_1238.002"/> phantasmagorische Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein <lb n="pvi_1238.003"/> so nervöses Wesen, eine so gefährliche Romantik der Phantasie geliehen hat, <lb n="pvi_1238.004"/> durfte er sie in der höchsten Spannung, da er mit Eins eine entsetzliche <lb n="pvi_1238.005"/> Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. – Etwas eigenthümlich Bewegtes <lb n="pvi_1238.006"/> aber haben alle Bilder Shakespeare's; sie gemahnen uns, wie wenn man <lb n="pvi_1238.007"/> mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete, <lb n="pvi_1238.008"/> wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe's wie eine Sonne <lb n="pvi_1238.009"/> ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenstand in scharfer Deutlichkeit <lb n="pvi_1238.010"/> des Umrisses aufzeigen. Dieß ist episch; die griechischen Dramatiker haben <lb n="pvi_1238.011"/> allerdings etwas von Shakespeare's bewegter, geisterhafter Gluth, doch <lb n="pvi_1238.012"/> gekühlt im plastischen Formgefühle.</hi> </p> <lb n="pvi_1238.013"/> <p> <hi rendition="#et"> Der charakteristische Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem <lb n="pvi_1238.014"/> der sog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere sein. Subjectiver bewegt, <lb n="pvi_1238.015"/> wie er ist, erlaubt er sich eine naturalistische Freiheit auch in Behandlung <lb n="pvi_1238.016"/> der Sprachregeln und wirft sich in trotziger Nachlässigkeit gegen die classische <lb n="pvi_1238.017"/> Correctheit auf. Auch hierin ist der erste große Dichter dieses Styls, Shakespeare, <lb n="pvi_1238.018"/> ein Beispiel, besonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart <lb n="pvi_1238.019"/> in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieser gieng von der gesteigerten, <lb n="pvi_1238.020"/> überschwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die sich aber <lb n="pvi_1238.021"/> aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbsten und freiesten <lb n="pvi_1238.022"/> Umspringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten <lb n="pvi_1238.023"/> Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die sogen. liebe <lb n="pvi_1238.024"/> Natur, als Cynismus entfesselt und beides schlug sich insbesondere in den <lb n="pvi_1238.025"/> Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich <lb n="pvi_1238.026"/> in Göthe's Jugendstyl von Aposiopesen, Abbrechungen, unendlichen Ausrufungen <lb n="pvi_1238.027"/> u. s. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weglassungen <lb n="pvi_1238.028"/> des Artikels, des persönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die <lb n="pvi_1238.029"/> Stutzung der Endsylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe sich classisch <lb n="pvi_1238.030"/> geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem <lb n="pvi_1238.031"/> säuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit <lb n="pvi_1238.032"/> abliegt und ein neuer Beleg ist, daß die Stylrichtungen sich nicht zu weit <lb n="pvi_1238.033"/> von einander entfernen sollen.</hi> </p> </div> </div> <lb n="pvi_1238.034"/> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 855.</hi> </p> <lb n="pvi_1238.035"/> <p> Der poetische Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt sich als <lb n="pvi_1238.036"/> <hi rendition="#g">Rhythmus</hi> in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derselbe besteht in regelmäßiger <lb n="pvi_1238.037"/> Wiederkehr einer bestimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von <lb n="pvi_1238.038"/> einem Accente beherrscht werden, also sich nach dem Merkmale der Stärke und <lb n="pvi_1238.039"/> Schwäche unterscheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtschaft der </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1238/0100]
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Munde jeder seiner Personen dürfte der Dichter so wilde, rasch überspringende, pvi_1238.002
phantasmagorische Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein pvi_1238.003
so nervöses Wesen, eine so gefährliche Romantik der Phantasie geliehen hat, pvi_1238.004
durfte er sie in der höchsten Spannung, da er mit Eins eine entsetzliche pvi_1238.005
Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. – Etwas eigenthümlich Bewegtes pvi_1238.006
aber haben alle Bilder Shakespeare's; sie gemahnen uns, wie wenn man pvi_1238.007
mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete, pvi_1238.008
wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe's wie eine Sonne pvi_1238.009
ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenstand in scharfer Deutlichkeit pvi_1238.010
des Umrisses aufzeigen. Dieß ist episch; die griechischen Dramatiker haben pvi_1238.011
allerdings etwas von Shakespeare's bewegter, geisterhafter Gluth, doch pvi_1238.012
gekühlt im plastischen Formgefühle.
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Der charakteristische Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem pvi_1238.014
der sog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere sein. Subjectiver bewegt, pvi_1238.015
wie er ist, erlaubt er sich eine naturalistische Freiheit auch in Behandlung pvi_1238.016
der Sprachregeln und wirft sich in trotziger Nachlässigkeit gegen die classische pvi_1238.017
Correctheit auf. Auch hierin ist der erste große Dichter dieses Styls, Shakespeare, pvi_1238.018
ein Beispiel, besonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart pvi_1238.019
in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieser gieng von der gesteigerten, pvi_1238.020
überschwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die sich aber pvi_1238.021
aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbsten und freiesten pvi_1238.022
Umspringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten pvi_1238.023
Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die sogen. liebe pvi_1238.024
Natur, als Cynismus entfesselt und beides schlug sich insbesondere in den pvi_1238.025
Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich pvi_1238.026
in Göthe's Jugendstyl von Aposiopesen, Abbrechungen, unendlichen Ausrufungen pvi_1238.027
u. s. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weglassungen pvi_1238.028
des Artikels, des persönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die pvi_1238.029
Stutzung der Endsylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe sich classisch pvi_1238.030
geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem pvi_1238.031
säuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit pvi_1238.032
abliegt und ein neuer Beleg ist, daß die Stylrichtungen sich nicht zu weit pvi_1238.033
von einander entfernen sollen.
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§. 855.
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Der poetische Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt sich als pvi_1238.036
Rhythmus in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derselbe besteht in regelmäßiger pvi_1238.037
Wiederkehr einer bestimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von pvi_1238.038
einem Accente beherrscht werden, also sich nach dem Merkmale der Stärke und pvi_1238.039
Schwäche unterscheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtschaft der
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