Zeichenpapier und ungemeiner Umfang. Ich entfalte sie und meinem Auge zeigt sich ein Chaos von Linien auf dem einen, ein noch größeres von Linien und Farben auf dem andern. In den Feldern dieser krausen Netze stand Schrift in verschiedenen Richtungen geführt, wie solche durch die eintheilenden Linien gegeben waren: senkrecht, wagrecht und über's Kreuz in Diagonalen. Beide mühsamen Kunstwerke waren unvollendet, man sah ein Stück ausgeführt, daneben auf derselben Fläche Versuche, andere Theilungslinien zu führen, die ver¬ worrener und verworrener wurden und schließlich er¬ kennen ließen, daß der Künstler nicht weiter wußte, stecken blieb, erlag. Kleinere Blätter lagen dabei, auf denen der Unglückliche es mit wiederholten neuen Anordnungsentwürfen versucht und einzelne Anmer¬ kungen niedergeschrieben hatte. Beide Papierungeheuer trugen die sehr schön in Fraktur geschriebene Ueber¬ schrift:
System des harmonischen Weltalls.
Mir wurde ganz schwindlig, als ich angefangen, mich in den Inhalt hineinzulesen, und mit Hülfe des wenigen Kommentars auf den Beilagen zu einer ungefähren Vorstellung von der Absicht des Unter¬ nehmens gelangte. Ich rannte wie betrunken mit den zwei Riesentabellen zu Frau Hedwig hinab, hielt sie
Zeichenpapier und ungemeiner Umfang. Ich entfalte ſie und meinem Auge zeigt ſich ein Chaos von Linien auf dem einen, ein noch größeres von Linien und Farben auf dem andern. In den Feldern dieſer krauſen Netze ſtand Schrift in verſchiedenen Richtungen geführt, wie ſolche durch die eintheilenden Linien gegeben waren: ſenkrecht, wagrecht und über's Kreuz in Diagonalen. Beide mühſamen Kunſtwerke waren unvollendet, man ſah ein Stück ausgeführt, daneben auf derſelben Fläche Verſuche, andere Theilungslinien zu führen, die ver¬ worrener und verworrener wurden und ſchließlich er¬ kennen ließen, daß der Künſtler nicht weiter wußte, ſtecken blieb, erlag. Kleinere Blätter lagen dabei, auf denen der Unglückliche es mit wiederholten neuen Anordnungsentwürfen verſucht und einzelne Anmer¬ kungen niedergeſchrieben hatte. Beide Papierungeheuer trugen die ſehr ſchön in Fraktur geſchriebene Ueber¬ ſchrift:
Syſtem des harmoniſchen Weltalls.
Mir wurde ganz ſchwindlig, als ich angefangen, mich in den Inhalt hineinzuleſen, und mit Hülfe des wenigen Kommentars auf den Beilagen zu einer ungefähren Vorſtellung von der Abſicht des Unter¬ nehmens gelangte. Ich rannte wie betrunken mit den zwei Rieſentabellen zu Frau Hedwig hinab, hielt ſie
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[60/0073]
Zeichenpapier und ungemeiner Umfang. Ich entfalte
ſie und meinem Auge zeigt ſich ein Chaos von Linien
auf dem einen, ein noch größeres von Linien und
Farben auf dem andern. In den Feldern dieſer krauſen
Netze ſtand Schrift in verſchiedenen Richtungen geführt,
wie ſolche durch die eintheilenden Linien gegeben waren:
ſenkrecht, wagrecht und über's Kreuz in Diagonalen.
Beide mühſamen Kunſtwerke waren unvollendet, man
ſah ein Stück ausgeführt, daneben auf derſelben Fläche
Verſuche, andere Theilungslinien zu führen, die ver¬
worrener und verworrener wurden und ſchließlich er¬
kennen ließen, daß der Künſtler nicht weiter wußte,
ſtecken blieb, erlag. Kleinere Blätter lagen dabei, auf
denen der Unglückliche es mit wiederholten neuen
Anordnungsentwürfen verſucht und einzelne Anmer¬
kungen niedergeſchrieben hatte. Beide Papierungeheuer
trugen die ſehr ſchön in Fraktur geſchriebene Ueber¬
ſchrift:
Syſtem des harmoniſchen Weltalls.
Mir wurde ganz ſchwindlig, als ich angefangen,
mich in den Inhalt hineinzuleſen, und mit Hülfe des
wenigen Kommentars auf den Beilagen zu einer
ungefähren Vorſtellung von der Abſicht des Unter¬
nehmens gelangte. Ich rannte wie betrunken mit den
zwei Rieſentabellen zu Frau Hedwig hinab, hielt ſie
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/73>, abgerufen am 26.11.2024.
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