Stunde den stillen Raum, worin der Geist des Ver¬ storbenen mich zu umschweben schien. Die Bücher rings in den Schränken sahen mich an, als wollten sie mit mir sprechen, mir vom Zwiegespräch zwischen ihnen und dem Todten erzählen. Ich fand die staatswissen¬ schaftliche Literatur weit abseits gestellt und nur mäßig vertreten. Dagegen nahe zur Hand standen philosophische und schön-wissenschaftliche Werke. Starke Spuren von häufigem Gebrauch zeigten die Werke des Plato, des Aristoteles, Spinoza. Kant's, Fichte's, Schelling's, Hegel's Schriften, die größeren, wie einzelne Abhand¬ lungen, füllten eine Reihe von Fächern: was von Schopenhauer bis dahin erschienen, fand sich in der Nähe; den meisten Bänden sah man, wie jenen Werken der älteren Philosophen, leicht an, daß sie nicht als müßige Zierde standen. Eine ausgewählte poetische Literatur reihte sich an diese ernsten Kolonnen, Homer, Aeschylos, Sophokles, Euripides und neben ihnen Shakespeare befanden sich griffbequem auf dem Bücher¬ brett just dem Sitzenden gegenüber; ich schlug im Vorübergehen den Hamlet auf und fand alle Blätter zwischen den Linien und am Rand über und über beschrieben, ebenso Goethe's "Faust", als ich mich in der deutschen, solid vertretenen Literatur umsah. Mein Blick fiel im Streifen auf den Namen Hölderlin; neben den sämmtlichen Werken in der bekannten verdienst¬ vollen Ausgabe von Christoph Schwab standen die Ge¬
Stunde den ſtillen Raum, worin der Geiſt des Ver¬ ſtorbenen mich zu umſchweben ſchien. Die Bücher rings in den Schränken ſahen mich an, als wollten ſie mit mir ſprechen, mir vom Zwiegeſpräch zwiſchen ihnen und dem Todten erzählen. Ich fand die ſtaatswiſſen¬ ſchaftliche Literatur weit abſeits geſtellt und nur mäßig vertreten. Dagegen nahe zur Hand ſtanden philoſophiſche und ſchön-wiſſenſchaftliche Werke. Starke Spuren von häufigem Gebrauch zeigten die Werke des Plato, des Ariſtoteles, Spinoza. Kant's, Fichte's, Schelling's, Hegel's Schriften, die größeren, wie einzelne Abhand¬ lungen, füllten eine Reihe von Fächern: was von Schopenhauer bis dahin erſchienen, fand ſich in der Nähe; den meiſten Bänden ſah man, wie jenen Werken der älteren Philoſophen, leicht an, daß ſie nicht als müßige Zierde ſtanden. Eine ausgewählte poetiſche Literatur reihte ſich an dieſe ernſten Kolonnen, Homer, Aeſchylos, Sophokles, Euripides und neben ihnen Shakeſpeare befanden ſich griffbequem auf dem Bücher¬ brett juſt dem Sitzenden gegenüber; ich ſchlug im Vorübergehen den Hamlet auf und fand alle Blätter zwiſchen den Linien und am Rand über und über beſchrieben, ebenſo Goethe's „Fauſt“, als ich mich in der deutſchen, ſolid vertretenen Literatur umſah. Mein Blick fiel im Streifen auf den Namen Hölderlin; neben den ſämmtlichen Werken in der bekannten verdienſt¬ vollen Ausgabe von Chriſtoph Schwab ſtanden die Ge¬
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Stunde den ſtillen Raum, worin der Geiſt des Ver¬
ſtorbenen mich zu umſchweben ſchien. Die Bücher rings
in den Schränken ſahen mich an, als wollten ſie mit
mir ſprechen, mir vom Zwiegeſpräch zwiſchen ihnen
und dem Todten erzählen. Ich fand die ſtaatswiſſen¬
ſchaftliche Literatur weit abſeits geſtellt und nur mäßig
vertreten. Dagegen nahe zur Hand ſtanden philoſophiſche
und ſchön-wiſſenſchaftliche Werke. Starke Spuren von
häufigem Gebrauch zeigten die Werke des Plato, des
Ariſtoteles, Spinoza. Kant's, Fichte's, Schelling's,
Hegel's Schriften, die größeren, wie einzelne Abhand¬
lungen, füllten eine Reihe von Fächern: was von
Schopenhauer bis dahin erſchienen, fand ſich in der
Nähe; den meiſten Bänden ſah man, wie jenen
Werken der älteren Philoſophen, leicht an, daß ſie nicht
als müßige Zierde ſtanden. Eine ausgewählte poetiſche
Literatur reihte ſich an dieſe ernſten Kolonnen, Homer,
Aeſchylos, Sophokles, Euripides und neben ihnen
Shakeſpeare befanden ſich griffbequem auf dem Bücher¬
brett juſt dem Sitzenden gegenüber; ich ſchlug im
Vorübergehen den Hamlet auf und fand alle Blätter
zwiſchen den Linien und am Rand über und über
beſchrieben, ebenſo Goethe's „Fauſt“, als ich mich in der
deutſchen, ſolid vertretenen Literatur umſah. Mein
Blick fiel im Streifen auf den Namen Hölderlin; neben
den ſämmtlichen Werken in der bekannten verdienſt¬
vollen Ausgabe von Chriſtoph Schwab ſtanden die Ge¬
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/68>, abgerufen am 26.11.2024.
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