den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen legend, indeß er mit der rechten einen Schlüsselbund aufnahm, der an seinem Gürtel hieng. Er suchte lang, während ich in gespannter Erwartung nach dem geschlossenen Schreine hinsah und mich vergeblich bemühte, zu er¬ kennen, was die verwaschenen Heiligenbilder auf den Flügeln vorstellten. Jetzt zog er aus dem Stahlring einen silbernen Schlüssel, öffnete, schlug die Flügel auseinander und --
Hat sich der Himmel aufgethan? Vor mir wölbte sich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht Gemälde, sondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewissen Fels¬ höhlen an jener Inselküste, es seien Spiriti darin, aber was leuchtet hier, welch' Unbekanntes, Neues, welchen Wunderkern umschließen diese blau erglänzenden Wölbungen? Eine Erhöhung des Felses ragt aus dem Wasser, wie zur natürlichen Ruhestätte gebildet, auf weißer Decke, die darüber sich breitet und falten¬ reich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf weißem Schlummerkissen ruht ein Weib, mir entgegen¬ gekehrt, das Angesicht mir gegenüber, halbgeschlossen sind die von langen Wimpern überschleierten Augen. Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein seliges Lächeln umspielt ihre Lippen, Verklärung ist dieß Antlitz. Das magische Licht, das auf Correggio's berühmter "Nacht" vom Christuskind ausgeht, auf den Gesichtern
den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen legend, indeß er mit der rechten einen Schlüſſelbund aufnahm, der an ſeinem Gürtel hieng. Er ſuchte lang, während ich in geſpannter Erwartung nach dem geſchloſſenen Schreine hinſah und mich vergeblich bemühte, zu er¬ kennen, was die verwaſchenen Heiligenbilder auf den Flügeln vorſtellten. Jetzt zog er aus dem Stahlring einen ſilbernen Schlüſſel, öffnete, ſchlug die Flügel auseinander und —
Hat ſich der Himmel aufgethan? Vor mir wölbte ſich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht Gemälde, ſondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewiſſen Fels¬ höhlen an jener Inſelküſte, es ſeien Spiriti darin, aber was leuchtet hier, welch' Unbekanntes, Neues, welchen Wunderkern umſchließen dieſe blau erglänzenden Wölbungen? Eine Erhöhung des Felſes ragt aus dem Waſſer, wie zur natürlichen Ruheſtätte gebildet, auf weißer Decke, die darüber ſich breitet und falten¬ reich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf weißem Schlummerkiſſen ruht ein Weib, mir entgegen¬ gekehrt, das Angeſicht mir gegenüber, halbgeſchloſſen ſind die von langen Wimpern überſchleierten Augen. Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein ſeliges Lächeln umſpielt ihre Lippen, Verklärung iſt dieß Antlitz. Das magiſche Licht, das auf Correggio's berühmter „Nacht“ vom Chriſtuskind ausgeht, auf den Geſichtern
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den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen legend,
indeß er mit der rechten einen Schlüſſelbund aufnahm,
der an ſeinem Gürtel hieng. Er ſuchte lang, während
ich in geſpannter Erwartung nach dem geſchloſſenen
Schreine hinſah und mich vergeblich bemühte, zu er¬
kennen, was die verwaſchenen Heiligenbilder auf den
Flügeln vorſtellten. Jetzt zog er aus dem Stahlring
einen ſilbernen Schlüſſel, öffnete, ſchlug die Flügel
auseinander und —
Hat ſich der Himmel aufgethan? Vor mir wölbte
ſich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht
Gemälde, ſondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder
nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewiſſen Fels¬
höhlen an jener Inſelküſte, es ſeien Spiriti darin, aber
was leuchtet hier, welch' Unbekanntes, Neues, welchen
Wunderkern umſchließen dieſe blau erglänzenden
Wölbungen? Eine Erhöhung des Felſes ragt aus
dem Waſſer, wie zur natürlichen Ruheſtätte gebildet,
auf weißer Decke, die darüber ſich breitet und falten¬
reich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf
weißem Schlummerkiſſen ruht ein Weib, mir entgegen¬
gekehrt, das Angeſicht mir gegenüber, halbgeſchloſſen
ſind die von langen Wimpern überſchleierten Augen.
Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein ſeliges Lächeln
umſpielt ihre Lippen, Verklärung iſt dieß Antlitz.
Das magiſche Licht, das auf Correggio's berühmter
„Nacht“ vom Chriſtuskind ausgeht, auf den Geſichtern
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/425>, abgerufen am 12.12.2024.
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