jetzt auf meinen lieben Berg hinauf, sagte ich mir, hinauf nach der Grotte der wahren Rosalia, da will ich Kühlung suchen. Ich wanderte und wanderte, zwischen Villen, zwischen Alohecken, Gartenmauern weiter und weiter und konnte den Weg nicht finden, den Berg nicht gewahr werden. Da sehe ich unter dem Blätter¬ busch einer blühenden, hochaufgeschossenen Alo einen Zwerg sitzen, der mich sinnend, freundlich, mitleidig ansieht. "Könnten Sie mir nicht sagen, guter Herr Nano," rede ich ihn an, "wo es auf den Monte Pele¬ grino geht?" -- "Verehrter Herr Pilger, Excellenza irren sich," ist die Antwort, "der Berg ist jetzt umgekehrt im Meer drunten -- wissen Sie nicht, der Aetna hat ihn weg- und umgedrückt -- wenn Sie nur ge¬ fälligst --"
In dem Augenblick fühlte ich mich von Wasser umgeben und sinken. Ich sank tiefer und tiefer, nicht mit Bangen, sondern voll labenden Gefühles der Kühlung. Delfine huschten vorbei und sahen mich mit klugen Augen an, als wollten sie sagen: nicht wahr, hier ist es gut, hier sind keine feuerspeienden Drachen? Endlich fühlte ich Grund und der Zwerg stand wieder neben mir. "Hier," sprach er, "hier ist die Grotte." -- "Das ist ja keine Grotte," sagte ich, denn ich stand vor einem Hochaltar mit vergoldetem reichem Schnitzwerk, das über den geschlossenen Flügeln des Diptychon aufstieg. "Thut nichts," flüsterte der Zwerg,
jetzt auf meinen lieben Berg hinauf, ſagte ich mir, hinauf nach der Grotte der wahren Roſalia, da will ich Kühlung ſuchen. Ich wanderte und wanderte, zwiſchen Villen, zwiſchen Alohecken, Gartenmauern weiter und weiter und konnte den Weg nicht finden, den Berg nicht gewahr werden. Da ſehe ich unter dem Blätter¬ buſch einer blühenden, hochaufgeſchoſſenen Alo einen Zwerg ſitzen, der mich ſinnend, freundlich, mitleidig anſieht. „Könnten Sie mir nicht ſagen, guter Herr Nano,“ rede ich ihn an, „wo es auf den Monte Pele¬ grino geht?“ — „Verehrter Herr Pilger, Excellenza irren ſich,“ iſt die Antwort, „der Berg iſt jetzt umgekehrt im Meer drunten — wiſſen Sie nicht, der Aetna hat ihn weg- und umgedrückt — wenn Sie nur ge¬ fälligſt —“
In dem Augenblick fühlte ich mich von Waſſer umgeben und ſinken. Ich ſank tiefer und tiefer, nicht mit Bangen, ſondern voll labenden Gefühles der Kühlung. Delfine huſchten vorbei und ſahen mich mit klugen Augen an, als wollten ſie ſagen: nicht wahr, hier iſt es gut, hier ſind keine feuerſpeienden Drachen? Endlich fühlte ich Grund und der Zwerg ſtand wieder neben mir. „Hier,“ ſprach er, „hier iſt die Grotte.“ — „Das iſt ja keine Grotte,“ ſagte ich, denn ich ſtand vor einem Hochaltar mit vergoldetem reichem Schnitzwerk, das über den geſchloſſenen Flügeln des Diptychon aufſtieg. „Thut nichts,“ flüſterte der Zwerg,
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jetzt auf meinen lieben Berg hinauf, ſagte ich mir,
hinauf nach der Grotte der wahren Roſalia, da will
ich Kühlung ſuchen. Ich wanderte und wanderte, zwiſchen
Villen, zwiſchen Alohecken, Gartenmauern weiter und
weiter und konnte den Weg nicht finden, den Berg
nicht gewahr werden. Da ſehe ich unter dem Blätter¬
buſch einer blühenden, hochaufgeſchoſſenen Alo einen
Zwerg ſitzen, der mich ſinnend, freundlich, mitleidig
anſieht. „Könnten Sie mir nicht ſagen, guter Herr
Nano,“ rede ich ihn an, „wo es auf den Monte Pele¬
grino geht?“ — „Verehrter Herr Pilger, Excellenza irren
ſich,“ iſt die Antwort, „der Berg iſt jetzt umgekehrt
im Meer drunten — wiſſen Sie nicht, der Aetna hat
ihn weg- und umgedrückt — wenn Sie nur ge¬
fälligſt —“
In dem Augenblick fühlte ich mich von Waſſer
umgeben und ſinken. Ich ſank tiefer und tiefer, nicht
mit Bangen, ſondern voll labenden Gefühles der
Kühlung. Delfine huſchten vorbei und ſahen mich mit
klugen Augen an, als wollten ſie ſagen: nicht wahr,
hier iſt es gut, hier ſind keine feuerſpeienden Drachen?
Endlich fühlte ich Grund und der Zwerg ſtand wieder
neben mir. „Hier,“ ſprach er, „hier iſt die Grotte.“
— „Das iſt ja keine Grotte,“ ſagte ich, denn ich
ſtand vor einem Hochaltar mit vergoldetem reichem
Schnitzwerk, das über den geſchloſſenen Flügeln des
Diptychon aufſtieg. „Thut nichts,“ flüſterte der Zwerg,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/424>, abgerufen am 04.12.2024.
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