aller edleren Geister von humanistischer Bildung, und ihre Gemüthslage ist darin nicht so einfach als es scheint, es ist da ein sehr interessantes Helldunkel. Wir sind der christlichen Bilderwelt entwachsen, und sie ist uns zum freien ästhetischen Schein geworden, wie die alte Mythologie. Doch nein, wir, auch wir stehen nicht gleich zu beiden. An jene knüpft sich für uns eine Rührung, die einen Anklang an Glauben hat, ohne eigentlich Glauben zu sein, -- innige Reminis¬ cenz unserer Kinderzeit. Faust am Osterfest, -- Weihnachtsrührung, -- und am stärksten: Versetzung in die Schönheit des Madonnenideals, der heidnischen Göttin, deren Bild das durchweichte und entzückte Herz des Mittelalters mit der Ahnung aller Unschuld und sittlichen Güte echter Weiblichkeit durchläutert hat.
Die Sprache selbst könnte ohne den religiösen Glaubensapparat des Christenthums rein nicht mehr auskommen. Könnte die Liebe und könnten die Dichter die Engel entbehren? Und wo bliebe Goethe's Faust ohne den Teufel und seine Gesellen? Und wo meine treffliche Mythologie?
Aber das hilft eben auch nichts, damit ist natür¬ lich auch nicht auszukommen. Es handelt sich ja um
aller edleren Geiſter von humaniſtiſcher Bildung, und ihre Gemüthslage iſt darin nicht ſo einfach als es ſcheint, es iſt da ein ſehr intereſſantes Helldunkel. Wir ſind der chriſtlichen Bilderwelt entwachſen, und ſie iſt uns zum freien äſthetiſchen Schein geworden, wie die alte Mythologie. Doch nein, wir, auch wir ſtehen nicht gleich zu beiden. An jene knüpft ſich für uns eine Rührung, die einen Anklang an Glauben hat, ohne eigentlich Glauben zu ſein, — innige Reminis¬ cenz unſerer Kinderzeit. Fauſt am Oſterfeſt, — Weihnachtsrührung, — und am ſtärkſten: Verſetzung in die Schönheit des Madonnenideals, der heidniſchen Göttin, deren Bild das durchweichte und entzückte Herz des Mittelalters mit der Ahnung aller Unſchuld und ſittlichen Güte echter Weiblichkeit durchläutert hat.
Die Sprache ſelbſt könnte ohne den religiöſen Glaubensapparat des Chriſtenthums rein nicht mehr auskommen. Könnte die Liebe und könnten die Dichter die Engel entbehren? Und wo bliebe Goethe's Fauſt ohne den Teufel und ſeine Geſellen? Und wo meine treffliche Mythologie?
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aller edleren Geiſter von humaniſtiſcher Bildung, und
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ſcheint, es iſt da ein ſehr intereſſantes Helldunkel. Wir
ſind der chriſtlichen Bilderwelt entwachſen, und ſie iſt
uns zum freien äſthetiſchen Schein geworden, wie die
alte Mythologie. Doch nein, wir, auch wir ſtehen
nicht gleich zu beiden. An jene knüpft ſich für uns
eine Rührung, die einen Anklang an Glauben hat,
ohne eigentlich Glauben zu ſein, — innige Reminis¬
cenz unſerer Kinderzeit. Fauſt am Oſterfeſt, —
Weihnachtsrührung, — und am ſtärkſten: Verſetzung
in die Schönheit des Madonnenideals, der heidniſchen
Göttin, deren Bild das durchweichte und entzückte Herz
des Mittelalters mit der Ahnung aller Unſchuld und
ſittlichen Güte echter Weiblichkeit durchläutert hat.
Die Sprache ſelbſt könnte ohne den religiöſen
Glaubensapparat des Chriſtenthums rein nicht mehr
auskommen. Könnte die Liebe und könnten die Dichter
die Engel entbehren? Und wo bliebe Goethe's Fauſt
ohne den Teufel und ſeine Geſellen? Und wo meine
treffliche Mythologie?
Aber das hilft eben auch nichts, damit iſt natür¬
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/413>, abgerufen am 04.12.2024.
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