Diesem ebenso anmaßenden wie platten Philister¬ volk liebt nun die Poesie, die Kunst von Zeit zu Zeit recht grundsatzmäßig das Phantastische an den Kopf zu schleudern, damit es merke: die poetische Welt ist nicht die gemeine. Dieß ist begreiflich, doch soll der Künstler und Dichter es nicht zum Prinzip erheben wie unsere Romantiker thaten. Das Ideale stellt die gemeine Ansicht von Welt und Leben auch dann auf den Kopf, wenn es die Dinge ganz naturgemäß ge¬ schehen läßt. Echtes Kunstwerk hat mitten im Klaren doch immer Traum-Charakter, ist von "Geisterhauch umwittert". Göthe's Gedichte hören sich wie ein leises Schlafreden, nur um ein Weniges, ganz Weniges deutlicher. Man kann ihren Inhalt nicht greifen, nicht an den Fingern abzählen. Der Charakter im Dichter¬ bild wurzelt, so bestimmt er sich ausladet, in ge¬ heimnißvollen Naturtiefen und das Schicksal, die Nemesis, schreitet auch nicht fadengerade, sondern strickt aus gar vielen Maschen unrechenbar das Geisternetz, worin es die vermeintlich frei wandelnden Menschen einfängt. Auch die Zeit ist vor dem Dichter bloßer Schein. Gloster's Schicksal steckt ahnbar schon im ersten kurzen Auftritt des ersten Akts des Königs Lear. Goneril blüht, strotzt in ihrer Bosheit und Frechheit. "Gut, gut, -- der Ausgang," sagt Albanien, da sie sich ihrer klugen Berechnung der Zukunft rühmt. In den vier Wörtchen liegt die ganze Lehre vom bloßen Scheine
Dieſem ebenſo anmaßenden wie platten Philiſter¬ volk liebt nun die Poeſie, die Kunſt von Zeit zu Zeit recht grundſatzmäßig das Phantaſtiſche an den Kopf zu ſchleudern, damit es merke: die poetiſche Welt iſt nicht die gemeine. Dieß iſt begreiflich, doch ſoll der Künſtler und Dichter es nicht zum Prinzip erheben wie unſere Romantiker thaten. Das Ideale ſtellt die gemeine Anſicht von Welt und Leben auch dann auf den Kopf, wenn es die Dinge ganz naturgemäß ge¬ ſchehen läßt. Echtes Kunſtwerk hat mitten im Klaren doch immer Traum-Charakter, iſt von „Geiſterhauch umwittert“. Göthe's Gedichte hören ſich wie ein leiſes Schlafreden, nur um ein Weniges, ganz Weniges deutlicher. Man kann ihren Inhalt nicht greifen, nicht an den Fingern abzählen. Der Charakter im Dichter¬ bild wurzelt, ſo beſtimmt er ſich ausladet, in ge¬ heimnißvollen Naturtiefen und das Schickſal, die Nemeſis, ſchreitet auch nicht fadengerade, ſondern ſtrickt aus gar vielen Maſchen unrechenbar das Geiſternetz, worin es die vermeintlich frei wandelnden Menſchen einfängt. Auch die Zeit iſt vor dem Dichter bloßer Schein. Gloſter's Schickſal ſteckt ahnbar ſchon im erſten kurzen Auftritt des erſten Akts des Königs Lear. Goneril blüht, ſtrotzt in ihrer Bosheit und Frechheit. „Gut, gut, — der Ausgang,“ ſagt Albanien, da ſie ſich ihrer klugen Berechnung der Zukunft rühmt. In den vier Wörtchen liegt die ganze Lehre vom bloßen Scheine
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Dieſem ebenſo anmaßenden wie platten Philiſter¬
volk liebt nun die Poeſie, die Kunſt von Zeit zu Zeit
recht grundſatzmäßig das Phantaſtiſche an den Kopf
zu ſchleudern, damit es merke: die poetiſche Welt iſt
nicht die gemeine. Dieß iſt begreiflich, doch ſoll der
Künſtler und Dichter es nicht zum Prinzip erheben
wie unſere Romantiker thaten. Das Ideale ſtellt die
gemeine Anſicht von Welt und Leben auch dann auf
den Kopf, wenn es die Dinge ganz naturgemäß ge¬
ſchehen läßt. Echtes Kunſtwerk hat mitten im Klaren
doch immer Traum-Charakter, iſt von „Geiſterhauch
umwittert“. Göthe's Gedichte hören ſich wie ein leiſes
Schlafreden, nur um ein Weniges, ganz Weniges
deutlicher. Man kann ihren Inhalt nicht greifen, nicht
an den Fingern abzählen. Der Charakter im Dichter¬
bild wurzelt, ſo beſtimmt er ſich ausladet, in ge¬
heimnißvollen Naturtiefen und das Schickſal, die Nemeſis,
ſchreitet auch nicht fadengerade, ſondern ſtrickt aus gar
vielen Maſchen unrechenbar das Geiſternetz, worin es
die vermeintlich frei wandelnden Menſchen einfängt.
Auch die Zeit iſt vor dem Dichter bloßer Schein.
Gloſter's Schickſal ſteckt ahnbar ſchon im erſten kurzen
Auftritt des erſten Akts des Königs Lear. Goneril
blüht, ſtrotzt in ihrer Bosheit und Frechheit. „Gut,
gut, — der Ausgang,“ ſagt Albanien, da ſie ſich
ihrer klugen Berechnung der Zukunft rühmt. In den
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/375>, abgerufen am 22.11.2024.
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