Am Rialto, auf dem alten Börsenplatz jenseits der Brücke, meine ich leibhaft den Shylok zu sehen, wie sie ihm auf den Bart spucken, wie er hinweg¬ schleicht, den brennenden Haß gegen die Christen in der Seele. Ja, Shakespeare! -- Wenn er Venedig hätte sehen können, wie es jetzt ist! Das Traum¬ gewordne! O, er hätte es ganz verstanden! Wie ist er traumwebend! Und zugleich heller, wacher Tag. Oft ist's, als siedete sein Gehirn vor Phantasiren und doch ist er ganz bei sich, durchdenkt, ordnet, be¬ fiehlt. -- Auf der Brücke, in der Dämmerung zurück¬ gehend, glaubte ich ihm selbst zu begegnen. Konnte seine Züge nicht sehen, nur seine hohe Stirn. Kein Mensch auf Erden unter allen, die gewesen, den ich so drangvoll verlange von den Todten erwecken zu können, um ihn zu sehen, an seinen Lippen, seinen Augen zu hängen. Und wie würde ich ihn mit Fragen bestürmen! -- Aber es ist gut, daß er uns nicht mehr erscheinen kann, er würde zu todt gefragt -- mit vielen nöthigen und mit noch weit mehr dummen Fragen.
Pfahldorfgeschichte fertig. Besorge Abschrift für den Reisekameraden; soll bald abgehen. Etwas doch zu Stande gebracht! Wie es auch sei, es kann doch -- im Kleinen -- ein Ganzes heißen.
Am Rialto, auf dem alten Börſenplatz jenſeits der Brücke, meine ich leibhaft den Shylok zu ſehen, wie ſie ihm auf den Bart ſpucken, wie er hinweg¬ ſchleicht, den brennenden Haß gegen die Chriſten in der Seele. Ja, Shakeſpeare! — Wenn er Venedig hätte ſehen können, wie es jetzt iſt! Das Traum¬ gewordne! O, er hätte es ganz verſtanden! Wie iſt er traumwebend! Und zugleich heller, wacher Tag. Oft iſt's, als ſiedete ſein Gehirn vor Phantaſiren und doch iſt er ganz bei ſich, durchdenkt, ordnet, be¬ fiehlt. — Auf der Brücke, in der Dämmerung zurück¬ gehend, glaubte ich ihm ſelbſt zu begegnen. Konnte ſeine Züge nicht ſehen, nur ſeine hohe Stirn. Kein Menſch auf Erden unter allen, die geweſen, den ich ſo drangvoll verlange von den Todten erwecken zu können, um ihn zu ſehen, an ſeinen Lippen, ſeinen Augen zu hängen. Und wie würde ich ihn mit Fragen beſtürmen! — Aber es iſt gut, daß er uns nicht mehr erſcheinen kann, er würde zu todt gefragt — mit vielen nöthigen und mit noch weit mehr dummen Fragen.
Pfahldorfgeſchichte fertig. Beſorge Abſchrift für den Reiſekameraden; ſoll bald abgehen. Etwas doch zu Stande gebracht! Wie es auch ſei, es kann doch — im Kleinen — ein Ganzes heißen.
<TEI><text><body><div><pbfacs="#f0352"n="339"/><p>Am Rialto, auf dem alten Börſenplatz jenſeits<lb/>
der Brücke, meine ich leibhaft den Shylok zu ſehen,<lb/>
wie ſie ihm auf den Bart ſpucken, wie er hinweg¬<lb/>ſchleicht, den brennenden Haß gegen die Chriſten in<lb/>
der Seele. Ja, Shakeſpeare! — Wenn er Venedig<lb/>
hätte ſehen können, wie es jetzt iſt! Das Traum¬<lb/>
gewordne! O, er hätte es ganz verſtanden! Wie<lb/>
iſt er traumwebend! Und zugleich heller, wacher Tag.<lb/>
Oft iſt's, als ſiedete ſein Gehirn vor Phantaſiren<lb/>
und doch iſt er ganz bei ſich, durchdenkt, ordnet, be¬<lb/>
fiehlt. — Auf der Brücke, in der Dämmerung zurück¬<lb/>
gehend, glaubte ich ihm ſelbſt zu begegnen. Konnte<lb/>ſeine Züge nicht ſehen, nur ſeine hohe Stirn. Kein<lb/>
Menſch auf Erden unter allen, die geweſen, den ich<lb/>ſo drangvoll verlange von den Todten erwecken zu<lb/>
können, um ihn zu ſehen, an ſeinen Lippen, ſeinen<lb/>
Augen zu hängen. Und wie würde ich ihn mit Fragen<lb/>
beſtürmen! — Aber es iſt gut, daß er uns nicht mehr<lb/>
erſcheinen kann, er würde zu todt gefragt — mit vielen<lb/>
nöthigen und mit noch weit mehr dummen Fragen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Pfahldorfgeſchichte fertig. Beſorge Abſchrift für<lb/>
den Reiſekameraden; ſoll bald abgehen. Etwas doch<lb/>
zu Stande gebracht! Wie es auch ſei, es kann doch<lb/>— im Kleinen — ein Ganzes heißen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[339/0352]
Am Rialto, auf dem alten Börſenplatz jenſeits
der Brücke, meine ich leibhaft den Shylok zu ſehen,
wie ſie ihm auf den Bart ſpucken, wie er hinweg¬
ſchleicht, den brennenden Haß gegen die Chriſten in
der Seele. Ja, Shakeſpeare! — Wenn er Venedig
hätte ſehen können, wie es jetzt iſt! Das Traum¬
gewordne! O, er hätte es ganz verſtanden! Wie
iſt er traumwebend! Und zugleich heller, wacher Tag.
Oft iſt's, als ſiedete ſein Gehirn vor Phantaſiren
und doch iſt er ganz bei ſich, durchdenkt, ordnet, be¬
fiehlt. — Auf der Brücke, in der Dämmerung zurück¬
gehend, glaubte ich ihm ſelbſt zu begegnen. Konnte
ſeine Züge nicht ſehen, nur ſeine hohe Stirn. Kein
Menſch auf Erden unter allen, die geweſen, den ich
ſo drangvoll verlange von den Todten erwecken zu
können, um ihn zu ſehen, an ſeinen Lippen, ſeinen
Augen zu hängen. Und wie würde ich ihn mit Fragen
beſtürmen! — Aber es iſt gut, daß er uns nicht mehr
erſcheinen kann, er würde zu todt gefragt — mit vielen
nöthigen und mit noch weit mehr dummen Fragen.
Pfahldorfgeſchichte fertig. Beſorge Abſchrift für
den Reiſekameraden; ſoll bald abgehen. Etwas doch
zu Stande gebracht! Wie es auch ſei, es kann doch
— im Kleinen — ein Ganzes heißen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/352>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.