unserer Shakespeareerklärer, der die Ophelia für eine leichte Weltdame nimmt, auf Pistolen gefordert. Recht. Der hat meinen Geschmack.
Was ich immer auf's Neue bewundern muß, ist das höchst Stimmungsvolle in allen Theilen dieses Dramas, das doch von Gedankentiefe und scharfer Bewußtheit strotzt. Das Grundgefühl ist Schwüle; dieß ist längst erkannt und oft gesagt, aber es ist nicht bloß Schwüle in dieser bestimmten Situation. Hamlet geht um wie ein Mensch, der zu enge Schuhe anhat und sie nicht ablegen kann, dem daher alles Blut nach Herz und Gehirn schießt und der es daher in seiner Haut fast nicht aushält, und der richtige Zuschauer fühlt nicht nur, wie schwer seine Lage, sondern wie furchtbar schwer das Leben überhaupt ist. Nur der paradiesisch naive, der beschränkte und der gewissenlose Mensch lebt leicht, dem tiefer Gehenden hämmern die Pulse, wenn er bedenkt, welch' ein fürchterliches Schraubenwerk das Leben ist, das uns zwischen Fragen einpreßt bis zum Ersticken. Der Monolog "Sein oder Nichtsein" ist nach seinem Ge¬ dankengehalt sehr überschätzt worden, sein Werth liegt in der Stimmungstiefe: unerreichbar der Ausdruck des Brütens, das nicht weiß, wohinaus, des athemlosen Eingeengt-, Eingeschnürtseins.
unſerer Shakeſpeareerklärer, der die Ophelia für eine leichte Weltdame nimmt, auf Piſtolen gefordert. Recht. Der hat meinen Geſchmack.
Was ich immer auf's Neue bewundern muß, iſt das höchſt Stimmungsvolle in allen Theilen dieſes Dramas, das doch von Gedankentiefe und ſcharfer Bewußtheit ſtrotzt. Das Grundgefühl iſt Schwüle; dieß iſt längſt erkannt und oft geſagt, aber es iſt nicht bloß Schwüle in dieſer beſtimmten Situation. Hamlet geht um wie ein Menſch, der zu enge Schuhe anhat und ſie nicht ablegen kann, dem daher alles Blut nach Herz und Gehirn ſchießt und der es daher in ſeiner Haut faſt nicht aushält, und der richtige Zuſchauer fühlt nicht nur, wie ſchwer ſeine Lage, ſondern wie furchtbar ſchwer das Leben überhaupt iſt. Nur der paradieſiſch naive, der beſchränkte und der gewiſſenloſe Menſch lebt leicht, dem tiefer Gehenden hämmern die Pulſe, wenn er bedenkt, welch' ein fürchterliches Schraubenwerk das Leben iſt, das uns zwiſchen Fragen einpreßt bis zum Erſticken. Der Monolog „Sein oder Nichtſein“ iſt nach ſeinem Ge¬ dankengehalt ſehr überſchätzt worden, ſein Werth liegt in der Stimmungstiefe: unerreichbar der Ausdruck des Brütens, das nicht weiß, wohinaus, des athemloſen Eingeengt-, Eingeſchnürtſeins.
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unſerer Shakeſpeareerklärer, der die Ophelia für eine
leichte Weltdame nimmt, auf Piſtolen gefordert. Recht.
Der hat meinen Geſchmack.
Was ich immer auf's Neue bewundern muß, iſt
das höchſt Stimmungsvolle in allen Theilen dieſes
Dramas, das doch von Gedankentiefe und ſcharfer
Bewußtheit ſtrotzt. Das Grundgefühl iſt Schwüle;
dieß iſt längſt erkannt und oft geſagt, aber es iſt
nicht bloß Schwüle in dieſer beſtimmten Situation.
Hamlet geht um wie ein Menſch, der zu enge Schuhe
anhat und ſie nicht ablegen kann, dem daher alles
Blut nach Herz und Gehirn ſchießt und der es daher
in ſeiner Haut faſt nicht aushält, und der richtige
Zuſchauer fühlt nicht nur, wie ſchwer ſeine Lage,
ſondern wie furchtbar ſchwer das Leben überhaupt iſt.
Nur der paradieſiſch naive, der beſchränkte und der
gewiſſenloſe Menſch lebt leicht, dem tiefer Gehenden
hämmern die Pulſe, wenn er bedenkt, welch' ein
fürchterliches Schraubenwerk das Leben iſt, das uns
zwiſchen Fragen einpreßt bis zum Erſticken. Der
Monolog „Sein oder Nichtſein“ iſt nach ſeinem Ge¬
dankengehalt ſehr überſchätzt worden, ſein Werth liegt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/337>, abgerufen am 24.11.2024.
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