Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

ihre Produkte jedem verderblichen Zufall aus und
führt daher ihre Anschauungen nie rein durch, bis sie
sich im Menschen als Künstler erst zur Reinheit sammelt
und aus den getrübten Formen die Urform herstellt.


Da die doxa unvernünftig und allgemein ist, so
muß, wer besser sieht, nothwendig immer paradox er¬
scheinen. Alle Wahrheit ist paradox. -- Man sollte
eigentlich Unterricht darin nehmen, in Gemeinplätzen
zu reden; hätte man es gut gelernt, so wäre man in
Gesellschaft besser gelitten. Es kann den Menschen
nicht angenehm sein, wenn man ihnen zumuthet, auf
dem Kopfe zu gehen.


Auch im Sehen des sogenannten Kleinen hält
man die helleren Menschen für halb verrückt. Im
Ganzen sind die Leute doch eben durch ihre Blindheit
glücklich. Niemand will an einem Föhntag glauben,
daß er die Zeche schon am Abend, in der Nacht,
jedenfalls den andern Tag mit Unwetter zahlen muß.
Die Menschen haben in Mehrheit auch äußerst grobe
Sinne, stumpfe Nerven. Sie geben auch nicht Acht.
Sie wollen durchaus im Zerstreuten, im Dusel leben.
Wer gefälschte Getränke genießt, dem schwebt wohl
dunkel vor, es schmecke etwas Fremdes auf der Zunge,

ihre Produkte jedem verderblichen Zufall aus und
führt daher ihre Anſchauungen nie rein durch, bis ſie
ſich im Menſchen als Künſtler erſt zur Reinheit ſammelt
und aus den getrübten Formen die Urform herſtellt.


Da die δóξα unvernünftig und allgemein iſt, ſo
muß, wer beſſer ſieht, nothwendig immer paradox er¬
ſcheinen. Alle Wahrheit iſt paradox. — Man ſollte
eigentlich Unterricht darin nehmen, in Gemeinplätzen
zu reden; hätte man es gut gelernt, ſo wäre man in
Geſellſchaft beſſer gelitten. Es kann den Menſchen
nicht angenehm ſein, wenn man ihnen zumuthet, auf
dem Kopfe zu gehen.


Auch im Sehen des ſogenannten Kleinen hält
man die helleren Menſchen für halb verrückt. Im
Ganzen ſind die Leute doch eben durch ihre Blindheit
glücklich. Niemand will an einem Föhntag glauben,
daß er die Zeche ſchon am Abend, in der Nacht,
jedenfalls den andern Tag mit Unwetter zahlen muß.
Die Menſchen haben in Mehrheit auch äußerſt grobe
Sinne, ſtumpfe Nerven. Sie geben auch nicht Acht.
Sie wollen durchaus im Zerſtreuten, im Duſel leben.
Wer gefälſchte Getränke genießt, dem ſchwebt wohl
dunkel vor, es ſchmecke etwas Fremdes auf der Zunge,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0310" n="297"/>
ihre Produkte jedem verderblichen Zufall aus und<lb/>
führt daher ihre An&#x017F;chauungen nie rein durch, bis &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich im Men&#x017F;chen als Kün&#x017F;tler er&#x017F;t zur Reinheit &#x017F;ammelt<lb/>
und aus den getrübten Formen die Urform her&#x017F;tellt.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Da die <hi rendition="#aq">&#x03B4;ó</hi>&#x03BE;<hi rendition="#aq">&#x03B1;</hi> unvernünftig und allgemein i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
muß, wer be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ieht, nothwendig immer paradox er¬<lb/>
&#x017F;cheinen. Alle Wahrheit i&#x017F;t paradox. &#x2014; Man &#x017F;ollte<lb/>
eigentlich Unterricht darin nehmen, in Gemeinplätzen<lb/>
zu reden; hätte man es gut gelernt, &#x017F;o wäre man in<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft be&#x017F;&#x017F;er gelitten. Es kann den Men&#x017F;chen<lb/>
nicht angenehm &#x017F;ein, wenn man ihnen zumuthet, auf<lb/>
dem Kopfe zu gehen.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Auch im Sehen des &#x017F;ogenannten Kleinen hält<lb/>
man die helleren Men&#x017F;chen für halb verrückt. Im<lb/>
Ganzen &#x017F;ind die Leute doch eben durch ihre Blindheit<lb/>
glücklich. Niemand will an einem Föhntag glauben,<lb/>
daß er die Zeche &#x017F;chon am Abend, in der Nacht,<lb/>
jedenfalls den andern Tag mit Unwetter zahlen muß.<lb/>
Die Men&#x017F;chen haben in Mehrheit auch äußer&#x017F;t grobe<lb/>
Sinne, &#x017F;tumpfe Nerven. Sie geben auch nicht Acht.<lb/>
Sie wollen durchaus im Zer&#x017F;treuten, im Du&#x017F;el leben.<lb/>
Wer gefäl&#x017F;chte Getränke genießt, dem &#x017F;chwebt wohl<lb/>
dunkel vor, es &#x017F;chmecke etwas Fremdes auf der Zunge,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0310] ihre Produkte jedem verderblichen Zufall aus und führt daher ihre Anſchauungen nie rein durch, bis ſie ſich im Menſchen als Künſtler erſt zur Reinheit ſammelt und aus den getrübten Formen die Urform herſtellt. Da die δóξα unvernünftig und allgemein iſt, ſo muß, wer beſſer ſieht, nothwendig immer paradox er¬ ſcheinen. Alle Wahrheit iſt paradox. — Man ſollte eigentlich Unterricht darin nehmen, in Gemeinplätzen zu reden; hätte man es gut gelernt, ſo wäre man in Geſellſchaft beſſer gelitten. Es kann den Menſchen nicht angenehm ſein, wenn man ihnen zumuthet, auf dem Kopfe zu gehen. Auch im Sehen des ſogenannten Kleinen hält man die helleren Menſchen für halb verrückt. Im Ganzen ſind die Leute doch eben durch ihre Blindheit glücklich. Niemand will an einem Föhntag glauben, daß er die Zeche ſchon am Abend, in der Nacht, jedenfalls den andern Tag mit Unwetter zahlen muß. Die Menſchen haben in Mehrheit auch äußerſt grobe Sinne, ſtumpfe Nerven. Sie geben auch nicht Acht. Sie wollen durchaus im Zerſtreuten, im Duſel leben. Wer gefälſchte Getränke genießt, dem ſchwebt wohl dunkel vor, es ſchmecke etwas Fremdes auf der Zunge,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/310
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/310>, abgerufen am 22.07.2024.