eine Handschrift öfter vorgekommen, wissen wir mit dem ersten Blick auf eine Briefadresse, wer den Brief geschrieben. Unerforschliches Wunder der Individualität und der Sicherheit und Schnelligkeit des Schlusses aus der sinnlichen Wahrnehmung!
Zu den stärksten Beweisen gegen den Materialis¬ mus gehört die Schamröthe und das Genie. Wenn sich der Mensch schämt, wünscht er, nicht gesehen zu werden, möchte sein Gesicht verhüllen; so ist sein Ge¬ fühl, nicht daß er es irgend in Worten dächte. Was thut die Natur? Sie pumpt das Blut in die kleinen Gefäße des Angesichts, um rasch einen rothen Schleier darüber zu ziehen. Das ist freilich kein eigentliches Verhüllen, sie kann es eben nicht besser, sie macht's, so gut sie kann, symbolisch. Wenn nun die Natur so etwas vermag, wenn in dem, was wir Materie nennen, so etwas vorgeht, so muß doch die Materie etwas Anderes sein, als die Materialisten meinen. Sagte ein Gegner, da handle es sich ja nicht von getrennter Materie, sondern von solcher, die in den Zusammenhang aufgenommen sei, welchen wir seelisch nennen: gut; wie könnte aber Stoff, als purer Stoff angesehen, je in solchen Zusammenhang treten? -- Das Genie wird geboren. Wird es geboren, so folgt haarscharf, daß die Natur selbst ein Genie ist. Wendet
eine Handſchrift öfter vorgekommen, wiſſen wir mit dem erſten Blick auf eine Briefadreſſe, wer den Brief geſchrieben. Unerforſchliches Wunder der Individualität und der Sicherheit und Schnelligkeit des Schluſſes aus der ſinnlichen Wahrnehmung!
Zu den ſtärkſten Beweiſen gegen den Materialis¬ mus gehört die Schamröthe und das Genie. Wenn ſich der Menſch ſchämt, wünſcht er, nicht geſehen zu werden, möchte ſein Geſicht verhüllen; ſo iſt ſein Ge¬ fühl, nicht daß er es irgend in Worten dächte. Was thut die Natur? Sie pumpt das Blut in die kleinen Gefäße des Angeſichts, um raſch einen rothen Schleier darüber zu ziehen. Das iſt freilich kein eigentliches Verhüllen, ſie kann es eben nicht beſſer, ſie macht's, ſo gut ſie kann, ſymboliſch. Wenn nun die Natur ſo etwas vermag, wenn in dem, was wir Materie nennen, ſo etwas vorgeht, ſo muß doch die Materie etwas Anderes ſein, als die Materialiſten meinen. Sagte ein Gegner, da handle es ſich ja nicht von getrennter Materie, ſondern von ſolcher, die in den Zuſammenhang aufgenommen ſei, welchen wir ſeeliſch nennen: gut; wie könnte aber Stoff, als purer Stoff angeſehen, je in ſolchen Zuſammenhang treten? — Das Genie wird geboren. Wird es geboren, ſo folgt haarſcharf, daß die Natur ſelbſt ein Genie iſt. Wendet
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eine Handſchrift öfter vorgekommen, wiſſen wir mit
dem erſten Blick auf eine Briefadreſſe, wer den Brief
geſchrieben. Unerforſchliches Wunder der Individualität
und der Sicherheit und Schnelligkeit des Schluſſes
aus der ſinnlichen Wahrnehmung!
Zu den ſtärkſten Beweiſen gegen den Materialis¬
mus gehört die Schamröthe und das Genie. Wenn
ſich der Menſch ſchämt, wünſcht er, nicht geſehen zu
werden, möchte ſein Geſicht verhüllen; ſo iſt ſein Ge¬
fühl, nicht daß er es irgend in Worten dächte. Was
thut die Natur? Sie pumpt das Blut in die kleinen
Gefäße des Angeſichts, um raſch einen rothen Schleier
darüber zu ziehen. Das iſt freilich kein eigentliches
Verhüllen, ſie kann es eben nicht beſſer, ſie macht's,
ſo gut ſie kann, ſymboliſch. Wenn nun die Natur
ſo etwas vermag, wenn in dem, was wir Materie
nennen, ſo etwas vorgeht, ſo muß doch die Materie
etwas Anderes ſein, als die Materialiſten meinen.
Sagte ein Gegner, da handle es ſich ja nicht von
getrennter Materie, ſondern von ſolcher, die in den
Zuſammenhang aufgenommen ſei, welchen wir ſeeliſch
nennen: gut; wie könnte aber Stoff, als purer Stoff
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/307>, abgerufen am 24.11.2024.
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