Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

ernst schlimme oder humoristisch schlimme. Häufiger
Ersteres.


Ich sah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen
sitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte.
Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tausenden
in der Luft herumschwirrten. Das Junge sah immer
wartend in die Höhe und schüttelte mit der bekannten
Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬
geflogen kam. Es erkannte aber dieselben auf weite
Ferne, wenn sie sich noch mitten in der schwärmenden
Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ
sich mit Sicherheit beobachten, denn niemals schüttelte
es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten
mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber?
Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen
Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menschen¬
auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir
aber ein, daß wir unsersgleichen an Eigenheiten der
Handschrift erkennen, die um nichts bestimmbarer sind,
als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß
für die Unterschiede der Führung der Feder bei Schreibung
eines Buchstabs, sie sind nicht minder fein, als der
Bogen oder Haken, wie diese und keine andere Schwalbe
ihn beschreibt, oder die Art der Tragung oder der
besondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns

ernſt ſchlimme oder humoriſtiſch ſchlimme. Häufiger
Erſteres.


Ich ſah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen
ſitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte.
Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tauſenden
in der Luft herumſchwirrten. Das Junge ſah immer
wartend in die Höhe und ſchüttelte mit der bekannten
Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬
geflogen kam. Es erkannte aber dieſelben auf weite
Ferne, wenn ſie ſich noch mitten in der ſchwärmenden
Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ
ſich mit Sicherheit beobachten, denn niemals ſchüttelte
es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten
mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber?
Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen
Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menſchen¬
auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir
aber ein, daß wir unſersgleichen an Eigenheiten der
Handſchrift erkennen, die um nichts beſtimmbarer ſind,
als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß
für die Unterſchiede der Führung der Feder bei Schreibung
eines Buchſtabs, ſie ſind nicht minder fein, als der
Bogen oder Haken, wie dieſe und keine andere Schwalbe
ihn beſchreibt, oder die Art der Tragung oder der
beſondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0306" n="293"/>
ern&#x017F;t &#x017F;chlimme oder humori&#x017F;ti&#x017F;ch &#x017F;chlimme. Häufiger<lb/>
Er&#x017F;teres.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Ich &#x017F;ah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen<lb/>
&#x017F;itzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte.<lb/>
Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tau&#x017F;enden<lb/>
in der Luft herum&#x017F;chwirrten. Das Junge &#x017F;ah immer<lb/>
wartend in die Höhe und &#x017F;chüttelte mit der bekannten<lb/>
Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬<lb/>
geflogen kam. Es erkannte aber die&#x017F;elben auf weite<lb/>
Ferne, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich noch mitten in der &#x017F;chwärmenden<lb/>
Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ<lb/>
&#x017F;ich mit Sicherheit beobachten, denn niemals &#x017F;chüttelte<lb/>
es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten<lb/>
mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber?<lb/>
Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen<lb/>
Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Men&#x017F;chen¬<lb/>
auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir<lb/>
aber ein, daß wir un&#x017F;ersgleichen an Eigenheiten der<lb/>
Hand&#x017F;chrift erkennen, die um nichts be&#x017F;timmbarer &#x017F;ind,<lb/>
als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß<lb/>
für die Unter&#x017F;chiede der Führung der Feder bei Schreibung<lb/>
eines Buch&#x017F;tabs, &#x017F;ie &#x017F;ind nicht minder fein, als der<lb/>
Bogen oder Haken, wie die&#x017F;e und keine andere Schwalbe<lb/>
ihn be&#x017F;chreibt, oder die Art der Tragung oder der<lb/>
be&#x017F;ondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0306] ernſt ſchlimme oder humoriſtiſch ſchlimme. Häufiger Erſteres. Ich ſah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen ſitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte. Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tauſenden in der Luft herumſchwirrten. Das Junge ſah immer wartend in die Höhe und ſchüttelte mit der bekannten Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬ geflogen kam. Es erkannte aber dieſelben auf weite Ferne, wenn ſie ſich noch mitten in der ſchwärmenden Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ ſich mit Sicherheit beobachten, denn niemals ſchüttelte es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber? Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menſchen¬ auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir aber ein, daß wir unſersgleichen an Eigenheiten der Handſchrift erkennen, die um nichts beſtimmbarer ſind, als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß für die Unterſchiede der Führung der Feder bei Schreibung eines Buchſtabs, ſie ſind nicht minder fein, als der Bogen oder Haken, wie dieſe und keine andere Schwalbe ihn beſchreibt, oder die Art der Tragung oder der beſondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/306
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/306>, abgerufen am 24.11.2024.