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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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gehört doch nur dem Staate. Aber wie ein viel besseres
Gewissen müßte der Staat haben, wenn er sich ge¬
trauen wollte, der einzige Hüter der ethischen Güter
zu werden, wie viel ferner müßte die Gefahr byzan¬
tinischer Zustände liegen, die uns in dem Staate drohen
würden, wie er bisher war und wie er ist! Er hat
ein Gewissen wie ein böses Kind, das sich in der Angst
an den Rock einer bösen Mutter hängt. -- Und Cavour
drüben: freie Kirche im freien Staat!? Unverschämte
Kirche im feigen Staat!


Im bessern Staat wäre der Geistliche einfach Staats¬
diener als Volkspädagog und Kultusverwalter. Jeder
magische Nimbus fiele weg; der Nimbus enthält immer
den Zauberbegriff in sich, und davon geht alle Un¬
möglichkeit des Friedens zwischen Staat und Kirche aus.


Die Romanen befreien sich kritisch von der Kirche,
aber sie haben keine sittliche Empörung gegen ihre
Lügen, Verderbniß, Blutsinn, Frechheit. Das hatte
Luther, das ist deutsch. Daher bleibt ihnen die Kirche
eine Schachfigur, mit der sie rechnen. Und so werden
sie den Giftkörper, den Kanker nicht los. "Il papato
e un cancro, che bisogna lusingare
," sagte neulich
ein Minister. Da hat man's.


gehört doch nur dem Staate. Aber wie ein viel beſſeres
Gewiſſen müßte der Staat haben, wenn er ſich ge¬
trauen wollte, der einzige Hüter der ethiſchen Güter
zu werden, wie viel ferner müßte die Gefahr byzan¬
tiniſcher Zuſtände liegen, die uns in dem Staate drohen
würden, wie er bisher war und wie er iſt! Er hat
ein Gewiſſen wie ein böſes Kind, das ſich in der Angſt
an den Rock einer böſen Mutter hängt. — Und Cavour
drüben: freie Kirche im freien Staat!? Unverſchämte
Kirche im feigen Staat!


Im beſſern Staat wäre der Geiſtliche einfach Staats¬
diener als Volkspädagog und Kultusverwalter. Jeder
magiſche Nimbus fiele weg; der Nimbus enthält immer
den Zauberbegriff in ſich, und davon geht alle Un¬
möglichkeit des Friedens zwiſchen Staat und Kirche aus.


Die Romanen befreien ſich kritiſch von der Kirche,
aber ſie haben keine ſittliche Empörung gegen ihre
Lügen, Verderbniß, Blutſinn, Frechheit. Das hatte
Luther, das iſt deutſch. Daher bleibt ihnen die Kirche
eine Schachfigur, mit der ſie rechnen. Und ſo werden
ſie den Giftkörper, den Kanker nicht los. „Il papato
è un cancro, che bisogna lusingare
,“ ſagte neulich
ein Miniſter. Da hat man's.


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[274/0287] gehört doch nur dem Staate. Aber wie ein viel beſſeres Gewiſſen müßte der Staat haben, wenn er ſich ge¬ trauen wollte, der einzige Hüter der ethiſchen Güter zu werden, wie viel ferner müßte die Gefahr byzan¬ tiniſcher Zuſtände liegen, die uns in dem Staate drohen würden, wie er bisher war und wie er iſt! Er hat ein Gewiſſen wie ein böſes Kind, das ſich in der Angſt an den Rock einer böſen Mutter hängt. — Und Cavour drüben: freie Kirche im freien Staat!? Unverſchämte Kirche im feigen Staat! Im beſſern Staat wäre der Geiſtliche einfach Staats¬ diener als Volkspädagog und Kultusverwalter. Jeder magiſche Nimbus fiele weg; der Nimbus enthält immer den Zauberbegriff in ſich, und davon geht alle Un¬ möglichkeit des Friedens zwiſchen Staat und Kirche aus. Die Romanen befreien ſich kritiſch von der Kirche, aber ſie haben keine ſittliche Empörung gegen ihre Lügen, Verderbniß, Blutſinn, Frechheit. Das hatte Luther, das iſt deutſch. Daher bleibt ihnen die Kirche eine Schachfigur, mit der ſie rechnen. Und ſo werden ſie den Giftkörper, den Kanker nicht los. „Il papato è un cancro, che bisogna lusingare,“ ſagte neulich ein Miniſter. Da hat man's.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/287>, abgerufen am 25.11.2024.