Die paar Wörtchen wollten mir unheimlich vor¬ kommen. Ich hatte keine Zeit, zu grübeln.
Sie sang zu Ende:
"Schön Ranild schaut zum Fenster heraus, Ein nasser Rappe steht vor dem Haus. Merk' auf, Herr Olaf!
O Rappe, o Rappe, dein Sattel ist leer, Sag' an, was bringst du für traurige Mär'? Merk' auf, Herr Olaf!
,Dein Liebster ist hin, daß Gott sich erbarm', Ihn wieget die Nixe im schneeweißen Arm!' Merk' auf, Herr Olaf!
,Bei den Fischen wohnt er im tiefen Meer, Die Sonne siehet er nimmermehr.' Merk' auf, Herr Olaf!"
Wer könnte die Töne dieses Gesangs beschreiben! Schweres Dunkel, sich verdichtend, anschwellend, war ihre Grundstimmung. Bei den Lockworten der Nixe giengen sie in eine schmelzende Süßigkeit über, wur¬ den heißer und heißer, man meinte den wollüstigen Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten aus den Wirbeln der Nachtigallstimme auflodert. Sie sanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirk¬ lich am Ende, beim letzten Verse stieg wie ein Geist aus den gesungenen Thränen des Mitleids ein Etwas hervor und mischte sich unsagbar mit ihnen, -- ein
Die paar Wörtchen wollten mir unheimlich vor¬ kommen. Ich hatte keine Zeit, zu grübeln.
Sie ſang zu Ende:
„Schön Ranild ſchaut zum Fenſter heraus, Ein naſſer Rappe ſteht vor dem Haus. Merk' auf, Herr Olaf!
O Rappe, o Rappe, dein Sattel iſt leer, Sag' an, was bringſt du für traurige Mär'? Merk' auf, Herr Olaf!
‚Dein Liebſter iſt hin, daß Gott ſich erbarm', Ihn wieget die Nixe im ſchneeweißen Arm!' Merk' auf, Herr Olaf!
‚Bei den Fiſchen wohnt er im tiefen Meer, Die Sonne ſiehet er nimmermehr.' Merk' auf, Herr Olaf!“
Wer könnte die Töne dieſes Geſangs beſchreiben! Schweres Dunkel, ſich verdichtend, anſchwellend, war ihre Grundſtimmung. Bei den Lockworten der Nixe giengen ſie in eine ſchmelzende Süßigkeit über, wur¬ den heißer und heißer, man meinte den wollüſtigen Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten aus den Wirbeln der Nachtigallſtimme auflodert. Sie ſanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirk¬ lich am Ende, beim letzten Verſe ſtieg wie ein Geiſt aus den geſungenen Thränen des Mitleids ein Etwas hervor und miſchte ſich unſagbar mit ihnen, — ein
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Die paar Wörtchen wollten mir unheimlich vor¬
kommen. Ich hatte keine Zeit, zu grübeln.
Sie ſang zu Ende:
„Schön Ranild ſchaut zum Fenſter heraus,
Ein naſſer Rappe ſteht vor dem Haus.
Merk' auf, Herr Olaf!
O Rappe, o Rappe, dein Sattel iſt leer,
Sag' an, was bringſt du für traurige Mär'?
Merk' auf, Herr Olaf!
‚Dein Liebſter iſt hin, daß Gott ſich erbarm',
Ihn wieget die Nixe im ſchneeweißen Arm!'
Merk' auf, Herr Olaf!
‚Bei den Fiſchen wohnt er im tiefen Meer,
Die Sonne ſiehet er nimmermehr.'
Merk' auf, Herr Olaf!“
Wer könnte die Töne dieſes Geſangs beſchreiben!
Schweres Dunkel, ſich verdichtend, anſchwellend, war
ihre Grundſtimmung. Bei den Lockworten der Nixe
giengen ſie in eine ſchmelzende Süßigkeit über, wur¬
den heißer und heißer, man meinte den wollüſtigen
Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten
aus den Wirbeln der Nachtigallſtimme auflodert. Sie
ſanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirk¬
lich am Ende, beim letzten Verſe ſtieg wie ein Geiſt
aus den geſungenen Thränen des Mitleids ein Etwas
hervor und miſchte ſich unſagbar mit ihnen, — ein
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/160>, abgerufen am 16.02.2025.
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