sagte er, "was ihr von Miß Alton gelernt habt," und ich erkannte jetzt, was die steife Dame bei der Fa¬ milie zu thun habe. Sie war Lehrerin der Knaben im Deutschen und zugleich Reisemarschallin in deutsch redendem Land. Diese zeigten sich nicht nur in der Sage, sondern auch in Schiller's Drama wohl bewan¬ dert und die Sprachmeisterin nahm nun Anlaß, in volleres Licht zu setzen, wie weit sie es in ihrem Unterricht gebracht habe, sie forderte den älteren, etwa dreizehnjährigen, auf, auch Schiller'sche Verse in an¬ tikem Metrum vorzutragen. Er wählte das schöne Distichon auf das Distichon, und begann, unterstützt von der mitskandirenden Lehrerin:
"Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule --"
So weit kam er.
Die Geschichte ist eine strenge Wissenschaft. Sie kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird sie beobachten, so lang es thunlich, ohne ein wesentliches Stück der Wahrheit zu unterdrücken. Würde diese leiden, wenn sie jener sich fügte: sie wird, wenn auch mit Wehmuth, unerbittlich ihre Bahn verfolgen. Zarte Gemüther, denen diese Strenge unerträglich: sie sind frei, sie können die ernsten Blätter der Geschichte zu¬ klappen, sie können weiter lesen -- nach Belieben. Es hatte mir geschienen, A. E. sei des lästigen Uebels, das ihn auf der Reise befallen, ungewöhnlich schnell los geworden; doch das war Täuschung.
ſagte er, „was ihr von Miß Alton gelernt habt,“ und ich erkannte jetzt, was die ſteife Dame bei der Fa¬ milie zu thun habe. Sie war Lehrerin der Knaben im Deutſchen und zugleich Reiſemarſchallin in deutſch redendem Land. Dieſe zeigten ſich nicht nur in der Sage, ſondern auch in Schiller's Drama wohl bewan¬ dert und die Sprachmeiſterin nahm nun Anlaß, in volleres Licht zu ſetzen, wie weit ſie es in ihrem Unterricht gebracht habe, ſie forderte den älteren, etwa dreizehnjährigen, auf, auch Schiller'ſche Verſe in an¬ tikem Metrum vorzutragen. Er wählte das ſchöne Diſtichon auf das Diſtichon, und begann, unterſtützt von der mitſkandirenden Lehrerin:
„Im Hexameter ſteigt des Springquells flüſſige Säule —“
So weit kam er.
Die Geſchichte iſt eine ſtrenge Wiſſenſchaft. Sie kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird ſie beobachten, ſo lang es thunlich, ohne ein weſentliches Stück der Wahrheit zu unterdrücken. Würde dieſe leiden, wenn ſie jener ſich fügte: ſie wird, wenn auch mit Wehmuth, unerbittlich ihre Bahn verfolgen. Zarte Gemüther, denen dieſe Strenge unerträglich: ſie ſind frei, ſie können die ernſten Blätter der Geſchichte zu¬ klappen, ſie können weiter leſen — nach Belieben. Es hatte mir geſchienen, A. E. ſei des läſtigen Uebels, das ihn auf der Reiſe befallen, ungewöhnlich ſchnell los geworden; doch das war Täuſchung.
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ſagte er, „was ihr von Miß Alton gelernt habt,“ und
ich erkannte jetzt, was die ſteife Dame bei der Fa¬
milie zu thun habe. Sie war Lehrerin der Knaben
im Deutſchen und zugleich Reiſemarſchallin in deutſch
redendem Land. Dieſe zeigten ſich nicht nur in der
Sage, ſondern auch in Schiller's Drama wohl bewan¬
dert und die Sprachmeiſterin nahm nun Anlaß, in
volleres Licht zu ſetzen, wie weit ſie es in ihrem
Unterricht gebracht habe, ſie forderte den älteren, etwa
dreizehnjährigen, auf, auch Schiller'ſche Verſe in an¬
tikem Metrum vorzutragen. Er wählte das ſchöne
Diſtichon auf das Diſtichon, und begann, unterſtützt
von der mitſkandirenden Lehrerin:
„Im Hexameter ſteigt des Springquells flüſſige Säule —“
So weit kam er.
Die Geſchichte iſt eine ſtrenge Wiſſenſchaft. Sie
kennt nur die Wahrheit. Die Schicklichkeit wird ſie
beobachten, ſo lang es thunlich, ohne ein weſentliches
Stück der Wahrheit zu unterdrücken. Würde dieſe
leiden, wenn ſie jener ſich fügte: ſie wird, wenn auch
mit Wehmuth, unerbittlich ihre Bahn verfolgen. Zarte
Gemüther, denen dieſe Strenge unerträglich: ſie ſind
frei, ſie können die ernſten Blätter der Geſchichte zu¬
klappen, ſie können weiter leſen — nach Belieben.
Es hatte mir geſchienen, A. E. ſei des läſtigen Uebels,
das ihn auf der Reiſe befallen, ungewöhnlich ſchnell
los geworden; doch das war Täuſchung.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/76>, abgerufen am 05.12.2024.
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