Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

eines Tischlers den Namen Tell mit eigenen Augen
gelesen. Das gibt uns den richtigen, den wahrhaft
tragischen Schluß an die Hand: echte, höhere Ironie des
Schicksals: Tell gelangt auf seiner Flucht nach Wien,
nimmt einen falschen Namen an, erinnert sich an seine
Geschicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht
seine Familie nach und überläßt es den Enkeln, im
Verlauf der Zeit den richtigen Namen wieder zu
schreiben. Die Schlußßene gäbe ein herrliches, herz¬
lich rührendes Tableau: der gerettete, wehmüthig zu¬
friedene Tell mit Weib und Kind in seiner Werkstätte."

"Und Geßler? Und die Schweiz?"

"Nun, Donnerwetter, die Schweizer in Masse
schlagen das Luder todt, das ist doch gewiß besser als
ein Mord, und ich finde es dumm genug, daß sich die
guten Leute so um ihren Tell wehren, um den Einzigen,
da sie Tausende von Tellen gehabt haben. Doch weiß
ich nicht, ob ich das darstellen würde, das Moralische
versteht sich immer von selbst."

Ich war nur halb aufgelegt, über diesen erhabenen
Entwurf zu lachen; es grub und bohrte doch etwas
in mir wie ein feiner Dorn, oder eigentlich stachen
zwei Dorne in entgegengesetzter Richtung. Es war
dort bei der Stelle vom Chor und den nassen Ge¬
wändern und bei dem flüchtigen Zucken um A. E.'s
Mundwinkel doch etwas in mir vorgegangen, was zum
Bewußtsein heraufdringen wollte. Sollte das nicht

eines Tiſchlers den Namen Tell mit eigenen Augen
geleſen. Das gibt uns den richtigen, den wahrhaft
tragiſchen Schluß an die Hand: echte, höhere Ironie des
Schickſals: Tell gelangt auf ſeiner Flucht nach Wien,
nimmt einen falſchen Namen an, erinnert ſich an ſeine
Geſchicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht
ſeine Familie nach und überläßt es den Enkeln, im
Verlauf der Zeit den richtigen Namen wieder zu
ſchreiben. Die Schlußſzene gäbe ein herrliches, herz¬
lich rührendes Tableau: der gerettete, wehmüthig zu¬
friedene Tell mit Weib und Kind in ſeiner Werkſtätte.“

„Und Geßler? Und die Schweiz?“

„Nun, Donnerwetter, die Schweizer in Maſſe
ſchlagen das Luder todt, das iſt doch gewiß beſſer als
ein Mord, und ich finde es dumm genug, daß ſich die
guten Leute ſo um ihren Tell wehren, um den Einzigen,
da ſie Tauſende von Tellen gehabt haben. Doch weiß
ich nicht, ob ich das darſtellen würde, das Moraliſche
verſteht ſich immer von ſelbſt.“

Ich war nur halb aufgelegt, über dieſen erhabenen
Entwurf zu lachen; es grub und bohrte doch etwas
in mir wie ein feiner Dorn, oder eigentlich ſtachen
zwei Dorne in entgegengeſetzter Richtung. Es war
dort bei der Stelle vom Chor und den naſſen Ge¬
wändern und bei dem flüchtigen Zucken um A. E.'s
Mundwinkel doch etwas in mir vorgegangen, was zum
Bewußtſein heraufdringen wollte. Sollte das nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0063" n="50"/>
eines Ti&#x017F;chlers den Namen Tell mit eigenen Augen<lb/>
gele&#x017F;en. Das gibt uns den richtigen, den wahrhaft<lb/>
tragi&#x017F;chen Schluß an die Hand: echte, höhere Ironie des<lb/>
Schick&#x017F;als: Tell gelangt auf &#x017F;einer Flucht nach Wien,<lb/>
nimmt einen fal&#x017F;chen Namen an, erinnert &#x017F;ich an &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;chicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht<lb/>
&#x017F;eine Familie nach und überläßt es den Enkeln, im<lb/>
Verlauf der Zeit den richtigen Namen wieder zu<lb/>
&#x017F;chreiben. Die Schluß&#x017F;zene gäbe ein herrliches, herz¬<lb/>
lich rührendes Tableau: der gerettete, wehmüthig zu¬<lb/>
friedene Tell mit Weib und Kind in &#x017F;einer Werk&#x017F;tätte.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Und Geßler? Und die Schweiz?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Nun, Donnerwetter, die Schweizer in Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x017F;chlagen das Luder todt, das i&#x017F;t doch gewiß be&#x017F;&#x017F;er als<lb/>
ein Mord, und ich finde es dumm genug, daß &#x017F;ich die<lb/>
guten Leute &#x017F;o um ihren Tell wehren, um den Einzigen,<lb/>
da &#x017F;ie Tau&#x017F;ende von Tellen gehabt haben. Doch weiß<lb/>
ich nicht, ob ich das dar&#x017F;tellen würde, das Morali&#x017F;che<lb/>
ver&#x017F;teht &#x017F;ich immer von &#x017F;elb&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich war nur halb aufgelegt, über die&#x017F;en erhabenen<lb/>
Entwurf zu lachen; es grub und bohrte doch etwas<lb/>
in mir wie ein feiner Dorn, oder eigentlich &#x017F;tachen<lb/>
zwei Dorne in entgegenge&#x017F;etzter Richtung. Es war<lb/>
dort bei der Stelle vom Chor und den na&#x017F;&#x017F;en Ge¬<lb/>
wändern und bei dem flüchtigen Zucken um A. E.'s<lb/>
Mundwinkel doch etwas in mir vorgegangen, was zum<lb/>
Bewußt&#x017F;ein heraufdringen wollte. Sollte das nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0063] eines Tiſchlers den Namen Tell mit eigenen Augen geleſen. Das gibt uns den richtigen, den wahrhaft tragiſchen Schluß an die Hand: echte, höhere Ironie des Schickſals: Tell gelangt auf ſeiner Flucht nach Wien, nimmt einen falſchen Namen an, erinnert ſich an ſeine Geſchicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht ſeine Familie nach und überläßt es den Enkeln, im Verlauf der Zeit den richtigen Namen wieder zu ſchreiben. Die Schlußſzene gäbe ein herrliches, herz¬ lich rührendes Tableau: der gerettete, wehmüthig zu¬ friedene Tell mit Weib und Kind in ſeiner Werkſtätte.“ „Und Geßler? Und die Schweiz?“ „Nun, Donnerwetter, die Schweizer in Maſſe ſchlagen das Luder todt, das iſt doch gewiß beſſer als ein Mord, und ich finde es dumm genug, daß ſich die guten Leute ſo um ihren Tell wehren, um den Einzigen, da ſie Tauſende von Tellen gehabt haben. Doch weiß ich nicht, ob ich das darſtellen würde, das Moraliſche verſteht ſich immer von ſelbſt.“ Ich war nur halb aufgelegt, über dieſen erhabenen Entwurf zu lachen; es grub und bohrte doch etwas in mir wie ein feiner Dorn, oder eigentlich ſtachen zwei Dorne in entgegengeſetzter Richtung. Es war dort bei der Stelle vom Chor und den naſſen Ge¬ wändern und bei dem flüchtigen Zucken um A. E.'s Mundwinkel doch etwas in mir vorgegangen, was zum Bewußtſein heraufdringen wollte. Sollte das nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/63
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/63>, abgerufen am 05.12.2024.