Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

weibliche Stimme fernher vom Saume des Gewässers,
wo der helle Mond in den Nebel über dem Röhricht
schien. Augenblicklich löste er den eigenen Kahn, der
angebunden unter dem Hause lag, fuhr schnell und leise
am Gestrüppe des Ufers hin und hielt im dichteren,
höheren Schilfe, als er so nahe war, daß er deut¬
licher sehen und hören konnte. In kurzen Kreisen sah
er langsam einen Kahn sich drehen, darin eine dunkle
weibliche Gestalt. Sie sang oder schleppte vielmehr
durch wenige Töne dumpf, einförmig, hohl, einen
uralten Zaubersegen:

"Unser Herr Grippo fuhr über Land,
Im Brande ein Brand.
Brand, du sollst nicht hitzen,
Brand, du sollst nicht schwitzen,
Brand, du sollst nicht schwären,
Noch über dich begehren,
Bis der Weltenmutter die Spindel bricht,
Bis erlischt des ewigen Mondes Licht."

Nach je zwei Zeilen wurde kurz pausirt und Alpin
glaubte zu sehen, daß die weibliche Gestalt über einem
undeutlichen Gegenstand, der ausgestreckt im Kahne lag,
mit der Rechten, worin sie etwas hielt, das sich im
Helldunkel nicht erkennen ließ, seltsame Handbewegun¬
gen machte, senk- und wagrechte und kreisförmige
Linien in der Luft zog. Was es für ein Körper
war, der sich im Einbaum befand und dem diese Ge¬

weibliche Stimme fernher vom Saume des Gewäſſers,
wo der helle Mond in den Nebel über dem Röhricht
ſchien. Augenblicklich löſte er den eigenen Kahn, der
angebunden unter dem Hauſe lag, fuhr ſchnell und leiſe
am Geſtrüppe des Ufers hin und hielt im dichteren,
höheren Schilfe, als er ſo nahe war, daß er deut¬
licher ſehen und hören konnte. In kurzen Kreiſen ſah
er langſam einen Kahn ſich drehen, darin eine dunkle
weibliche Geſtalt. Sie ſang oder ſchleppte vielmehr
durch wenige Töne dumpf, einförmig, hohl, einen
uralten Zauberſegen:

„Unſer Herr Grippo fuhr über Land,
Im Brande ein Brand.
Brand, du ſollſt nicht hitzen,
Brand, du ſollſt nicht ſchwitzen,
Brand, du ſollſt nicht ſchwären,
Noch über dich begehren,
Bis der Weltenmutter die Spindel bricht,
Bis erliſcht des ewigen Mondes Licht.“

Nach je zwei Zeilen wurde kurz pauſirt und Alpin
glaubte zu ſehen, daß die weibliche Geſtalt über einem
undeutlichen Gegenſtand, der ausgeſtreckt im Kahne lag,
mit der Rechten, worin ſie etwas hielt, das ſich im
Helldunkel nicht erkennen ließ, ſeltſame Handbewegun¬
gen machte, ſenk- und wagrechte und kreisförmige
Linien in der Luft zog. Was es für ein Körper
war, der ſich im Einbaum befand und dem dieſe Ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0232" n="219"/>
weibliche Stimme fernher vom Saume des Gewä&#x017F;&#x017F;ers,<lb/>
wo der helle Mond in den Nebel über dem Röhricht<lb/>
&#x017F;chien. Augenblicklich lö&#x017F;te er den eigenen Kahn, der<lb/>
angebunden unter dem Hau&#x017F;e lag, fuhr &#x017F;chnell und lei&#x017F;e<lb/>
am Ge&#x017F;trüppe des Ufers hin und hielt im dichteren,<lb/>
höheren Schilfe, als er &#x017F;o nahe war, daß er deut¬<lb/>
licher &#x017F;ehen und hören konnte. In kurzen Krei&#x017F;en &#x017F;ah<lb/>
er lang&#x017F;am einen Kahn &#x017F;ich drehen, darin eine dunkle<lb/>
weibliche Ge&#x017F;talt. Sie &#x017F;ang oder &#x017F;chleppte vielmehr<lb/>
durch wenige Töne dumpf, einförmig, hohl, einen<lb/>
uralten Zauber&#x017F;egen:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Un&#x017F;er Herr Grippo fuhr über Land,</l><lb/>
          <l>Im Brande ein Brand.</l><lb/>
          <l>Brand, du &#x017F;oll&#x017F;t nicht hitzen,</l><lb/>
          <l>Brand, du &#x017F;oll&#x017F;t nicht &#x017F;chwitzen,</l><lb/>
          <l>Brand, du &#x017F;oll&#x017F;t nicht &#x017F;chwären,</l><lb/>
          <l>Noch über dich begehren,</l><lb/>
          <l>Bis der Weltenmutter die Spindel bricht,</l><lb/>
          <l>Bis erli&#x017F;cht des ewigen Mondes Licht.&#x201C;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Nach je zwei Zeilen wurde kurz pau&#x017F;irt und Alpin<lb/>
glaubte zu &#x017F;ehen, daß die weibliche Ge&#x017F;talt über einem<lb/>
undeutlichen Gegen&#x017F;tand, der ausge&#x017F;treckt im Kahne lag,<lb/>
mit der Rechten, worin &#x017F;ie etwas hielt, das &#x017F;ich im<lb/>
Helldunkel nicht erkennen ließ, &#x017F;elt&#x017F;ame Handbewegun¬<lb/>
gen machte, &#x017F;enk- und wagrechte und kreisförmige<lb/>
Linien in der Luft zog. Was es für ein Körper<lb/>
war, der &#x017F;ich im Einbaum befand und dem die&#x017F;e Ge¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0232] weibliche Stimme fernher vom Saume des Gewäſſers, wo der helle Mond in den Nebel über dem Röhricht ſchien. Augenblicklich löſte er den eigenen Kahn, der angebunden unter dem Hauſe lag, fuhr ſchnell und leiſe am Geſtrüppe des Ufers hin und hielt im dichteren, höheren Schilfe, als er ſo nahe war, daß er deut¬ licher ſehen und hören konnte. In kurzen Kreiſen ſah er langſam einen Kahn ſich drehen, darin eine dunkle weibliche Geſtalt. Sie ſang oder ſchleppte vielmehr durch wenige Töne dumpf, einförmig, hohl, einen uralten Zauberſegen: „Unſer Herr Grippo fuhr über Land, Im Brande ein Brand. Brand, du ſollſt nicht hitzen, Brand, du ſollſt nicht ſchwitzen, Brand, du ſollſt nicht ſchwären, Noch über dich begehren, Bis der Weltenmutter die Spindel bricht, Bis erliſcht des ewigen Mondes Licht.“ Nach je zwei Zeilen wurde kurz pauſirt und Alpin glaubte zu ſehen, daß die weibliche Geſtalt über einem undeutlichen Gegenſtand, der ausgeſtreckt im Kahne lag, mit der Rechten, worin ſie etwas hielt, das ſich im Helldunkel nicht erkennen ließ, ſeltſame Handbewegun¬ gen machte, ſenk- und wagrechte und kreisförmige Linien in der Luft zog. Was es für ein Körper war, der ſich im Einbaum befand und dem dieſe Ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/232
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/232>, abgerufen am 05.12.2024.