ihn befremdet, nach einer Antwort suchend, ansah, schien sein Zorn schnell wieder dem stärkeren Interesse am Gegenstand des Gesprächs zu weichen. "Was sagen Sie zur Sache?" fuhr er nach kurzer Pause fort. Ich gestand, nicht darüber nachgedacht, mir keine Ansicht gebildet zu haben. Dieß Wort versetzte ihn sichtbar in eine lehrhafte Stimmung. Mit dem Ausdruck und Ton, womit man zu gründlicher Behandlung eines Themas auszuholen pflegt, begann er: "Sie haben mir Zutrauen eingeflößt" -- Ich bewegte die Lippen zu einer Erwiderung, er schien zu merken, daß ich etwas von redlicher Theilnahme bei dem gestrigen Vor¬ fall anzudeuten im Begriff war, und sagte kurz und scharf: "Lassen wir das," dann knüpfte er an seine vorigen Worte wieder an: "Die vorliegende Frage ist eigentlich ohne Belang; ich meine im Grund auch, man sollte das Rütli lassen wie es ist; da aber doch einmal Hand daran gelegt werden soll, so drängt sich die Stylfrage auf; ich beschäftige mich gern mit Kunst¬ geschichte, insbesondere Geschichte der Architektur; sie liegt noch ganz im Argen; man hat den Begriff des Wesens der historischen Hauptstyle noch nicht entdeckt, und wie will man einen neuen finden, wenn man solchen nicht aus dem rechten Grunde des Begriffes schöpft? Ich erlaube mir, Ihnen meine Idee vorzu¬ tragen; es macht eben Jeder gern Propaganda für seine Gedanken, seine Entdeckungen. Ich unterscheide
ihn befremdet, nach einer Antwort ſuchend, anſah, ſchien ſein Zorn ſchnell wieder dem ſtärkeren Intereſſe am Gegenſtand des Geſprächs zu weichen. „Was ſagen Sie zur Sache?“ fuhr er nach kurzer Pauſe fort. Ich geſtand, nicht darüber nachgedacht, mir keine Anſicht gebildet zu haben. Dieß Wort verſetzte ihn ſichtbar in eine lehrhafte Stimmung. Mit dem Ausdruck und Ton, womit man zu gründlicher Behandlung eines Themas auszuholen pflegt, begann er: „Sie haben mir Zutrauen eingeflößt“ — Ich bewegte die Lippen zu einer Erwiderung, er ſchien zu merken, daß ich etwas von redlicher Theilnahme bei dem geſtrigen Vor¬ fall anzudeuten im Begriff war, und ſagte kurz und ſcharf: „Laſſen wir das,“ dann knüpfte er an ſeine vorigen Worte wieder an: „Die vorliegende Frage iſt eigentlich ohne Belang; ich meine im Grund auch, man ſollte das Rütli laſſen wie es iſt; da aber doch einmal Hand daran gelegt werden ſoll, ſo drängt ſich die Stylfrage auf; ich beſchäftige mich gern mit Kunſt¬ geſchichte, insbeſondere Geſchichte der Architektur; ſie liegt noch ganz im Argen; man hat den Begriff des Weſens der hiſtoriſchen Hauptſtyle noch nicht entdeckt, und wie will man einen neuen finden, wenn man ſolchen nicht aus dem rechten Grunde des Begriffes ſchöpft? Ich erlaube mir, Ihnen meine Idee vorzu¬ tragen; es macht eben Jeder gern Propaganda für ſeine Gedanken, ſeine Entdeckungen. Ich unterſcheide
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ihn befremdet, nach einer Antwort ſuchend, anſah, ſchien
ſein Zorn ſchnell wieder dem ſtärkeren Intereſſe am
Gegenſtand des Geſprächs zu weichen. „Was ſagen
Sie zur Sache?“ fuhr er nach kurzer Pauſe fort. Ich
geſtand, nicht darüber nachgedacht, mir keine Anſicht
gebildet zu haben. Dieß Wort verſetzte ihn ſichtbar
in eine lehrhafte Stimmung. Mit dem Ausdruck und
Ton, womit man zu gründlicher Behandlung eines
Themas auszuholen pflegt, begann er: „Sie haben
mir Zutrauen eingeflößt“ — Ich bewegte die Lippen
zu einer Erwiderung, er ſchien zu merken, daß ich
etwas von redlicher Theilnahme bei dem geſtrigen Vor¬
fall anzudeuten im Begriff war, und ſagte kurz und
ſcharf: „Laſſen wir das,“ dann knüpfte er an ſeine
vorigen Worte wieder an: „Die vorliegende Frage iſt
eigentlich ohne Belang; ich meine im Grund auch,
man ſollte das Rütli laſſen wie es iſt; da aber doch
einmal Hand daran gelegt werden ſoll, ſo drängt ſich
die Stylfrage auf; ich beſchäftige mich gern mit Kunſt¬
geſchichte, insbeſondere Geſchichte der Architektur; ſie
liegt noch ganz im Argen; man hat den Begriff des
Weſens der hiſtoriſchen Hauptſtyle noch nicht entdeckt,
und wie will man einen neuen finden, wenn man
ſolchen nicht aus dem rechten Grunde des Begriffes
ſchöpft? Ich erlaube mir, Ihnen meine Idee vorzu¬
tragen; es macht eben Jeder gern Propaganda für
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/23>, abgerufen am 04.12.2024.
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