finsterem Tone den Schluß vor sich hinsang, um den sich die Kleinen niemals bekümmert hatten:
"Das Korn hat gegoren Im heiligen Leib, Da hat sie geboren, Das Wunderweib, Die Strahlenstirne, den Taliesin, Der da schauet allen geheimen Sinn, Der da blicket hinaus in die Ewigkeit, Der da ist und war in aller Zeit, Der Druiden Vater und Geister-Haupt. Verflucht, wer nicht an Taliesin glaubt!"
Ein Huhn flog herein und pickte die Waizen- Körner auf, die bei der Mahlarbeit zu Boden gefallen waren. Dieß steigerte den Jubel der Kinder und eins um's andere riefen sie: "Schluck' das Körnchen, Henn, Henn, Henn! Coridwen, Coridwen!
Inzwischen ist an der Fensteröffnung ein unbe¬ merkter Zuschauer erschienen, ein Bursch im besten Jugendalter. Er betrachtet sich mit sichtbarem Wohl¬ fallen die Gruppe und verweilt mit innigen Blicken auf der mütterlichen Schwester der Kleinen. Nachdem er manche Minute so ohne Regung gestanden, zieht er eine Binse hervor und kitzelt mit ihrem Ende Si¬ gunen hinter dem Ohre; sie springt auf, "wart' nur, wart' Alpin, ich brech' dir den Finger ab," ruft sie, faßt seine Hand und drückt auf das Zeigfingergelenk, als wollte sie die Strafe vollziehen. Der Bursche grillt
finſterem Tone den Schluß vor ſich hinſang, um den ſich die Kleinen niemals bekümmert hatten:
„Das Korn hat gegoren Im heiligen Leib, Da hat ſie geboren, Das Wunderweib, Die Strahlenſtirne, den Talieſin, Der da ſchauet allen geheimen Sinn, Der da blicket hinaus in die Ewigkeit, Der da iſt und war in aller Zeit, Der Druiden Vater und Geiſter-Haupt. Verflucht, wer nicht an Talieſin glaubt!“
Ein Huhn flog herein und pickte die Waizen- Körner auf, die bei der Mahlarbeit zu Boden gefallen waren. Dieß ſteigerte den Jubel der Kinder und eins um's andere riefen ſie: „Schluck' das Körnchen, Henn, Henn, Henn! Coridwen, Coridwen!
Inzwiſchen iſt an der Fenſteröffnung ein unbe¬ merkter Zuſchauer erſchienen, ein Burſch im beſten Jugendalter. Er betrachtet ſich mit ſichtbarem Wohl¬ fallen die Gruppe und verweilt mit innigen Blicken auf der mütterlichen Schweſter der Kleinen. Nachdem er manche Minute ſo ohne Regung geſtanden, zieht er eine Binſe hervor und kitzelt mit ihrem Ende Si¬ gunen hinter dem Ohre; ſie ſpringt auf, „wart' nur, wart' Alpin, ich brech' dir den Finger ab,“ ruft ſie, faßt ſeine Hand und drückt auf das Zeigfingergelenk, als wollte ſie die Strafe vollziehen. Der Burſche grillt
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finſterem Tone den Schluß vor ſich hinſang, um den
ſich die Kleinen niemals bekümmert hatten:
„Das Korn hat gegoren
Im heiligen Leib,
Da hat ſie geboren,
Das Wunderweib,
Die Strahlenſtirne, den Talieſin,
Der da ſchauet allen geheimen Sinn,
Der da blicket hinaus in die Ewigkeit,
Der da iſt und war in aller Zeit,
Der Druiden Vater und Geiſter-Haupt.
Verflucht, wer nicht an Talieſin glaubt!“
Ein Huhn flog herein und pickte die Waizen-
Körner auf, die bei der Mahlarbeit zu Boden gefallen
waren. Dieß ſteigerte den Jubel der Kinder und
eins um's andere riefen ſie: „Schluck' das Körnchen,
Henn, Henn, Henn! Coridwen, Coridwen!
Inzwiſchen iſt an der Fenſteröffnung ein unbe¬
merkter Zuſchauer erſchienen, ein Burſch im beſten
Jugendalter. Er betrachtet ſich mit ſichtbarem Wohl¬
fallen die Gruppe und verweilt mit innigen Blicken
auf der mütterlichen Schweſter der Kleinen. Nachdem
er manche Minute ſo ohne Regung geſtanden, zieht
er eine Binſe hervor und kitzelt mit ihrem Ende Si¬
gunen hinter dem Ohre; ſie ſpringt auf, „wart' nur,
wart' Alpin, ich brech' dir den Finger ab,“ ruft ſie,
faßt ſeine Hand und drückt auf das Zeigfingergelenk,
als wollte ſie die Strafe vollziehen. Der Burſche grillt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/148>, abgerufen am 23.07.2024.
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