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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Mutter kam mir in's Auge und übergab mich den Thränen, so wird sich
eine lebendige Phantasie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Ver-
gleichung auflösen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der
Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männ-
lichen Herr, sondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als schwebte der
Geist der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und schmölze
seine männliche Härte. Vergleichungen der äußern Natur mit Geistigem
werden frostig, allegorisch, wenn das Bild zu bestimmt heraus und neben
die Sache hingestellt ist. Es mögen wohl z. B. in gewisser Stimmung
die letzten Wellenschläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das
Nachzucken einer Leidenschaft, die sich eben erst gelegt hat, aber wenn Lenau,
nachdem die Naturerscheinung geschildert ist, mit "also zuckt nach starkem
Weinen" u. s. w. fortfährt, so tritt das moralische Phänomen äußerlich
neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieses, statt innig hinein-
gefühlt zu sein.

In aller Vergleichung soll natürlich der Vergleichungspunct treffend,
schlagend sein. Othello's Bild für das schauerliche Nachwirken von Jago's
Einflüsterungen über Desdemona's Tuch: "o, es schwebt um mich so wie
der Rab' um ein verpestet Haus" ist ein schönes Beispiel tiefer Zweck-
mäßigkeit im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich
der epischen Poesie; Göthe's Geist erweist sich in der einfachen Nothwen-
digkeit und plastischen Sicherheit seiner Bilder als vorzüglich episch, selbst
im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächstes, bestes
Beispiel das tief schlagende Bild des Orestes in der Iphigenie von den
Furien heraus, die ihn nur so lange verschonen, als er im Heiligthum
Dianen's weilt: "Wölfe harren so um den Baum, auf den ein Reisender
sich rettete". Auch in der Prosa ist er außerordentlich reich an solchen ruhig
treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreise: "die Menschen
streichen sich bei meinem Incognito recht auf mir auf wie auf einem Probir-
steine"; -- "behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruste, vielleicht wird's
mit mir wie mit gefrornem Wein"; -- aus der Schweiz: "Himmelsluft,
weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und süß in
der Seele"). Es muß aber auch ächt poetische Bilder, und zwar im ernsten
Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend sind.
Dieß führt auf den Unterschied der Style und muß bei der Betrachtung
desselben zur Sprache kommen.

Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter
nicht unbedingt binden. Wirkliche Verstöße, die man als sog. Katachresen
zu den Sünden gegen den Geschmack zählen muß, finden nur da Statt, wo
durch einen eigentlichen lapsus der Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs-
Region in eine andere übergeschritten wird, die keine naturgemäße Ver-

Mutter kam mir in’s Auge und übergab mich den Thränen, ſo wird ſich
eine lebendige Phantaſie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Ver-
gleichung auflöſen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der
Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männ-
lichen Herr, ſondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als ſchwebte der
Geiſt der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und ſchmölze
ſeine männliche Härte. Vergleichungen der äußern Natur mit Geiſtigem
werden froſtig, allegoriſch, wenn das Bild zu beſtimmt heraus und neben
die Sache hingeſtellt iſt. Es mögen wohl z. B. in gewiſſer Stimmung
die letzten Wellenſchläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das
Nachzucken einer Leidenſchaft, die ſich eben erſt gelegt hat, aber wenn Lenau,
nachdem die Naturerſcheinung geſchildert iſt, mit „alſo zuckt nach ſtarkem
Weinen“ u. ſ. w. fortfährt, ſo tritt das moraliſche Phänomen äußerlich
neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieſes, ſtatt innig hinein-
gefühlt zu ſein.

In aller Vergleichung ſoll natürlich der Vergleichungspunct treffend,
ſchlagend ſein. Othello’s Bild für das ſchauerliche Nachwirken von Jago’s
Einflüſterungen über Desdemona’s Tuch: „o, es ſchwebt um mich ſo wie
der Rab’ um ein verpeſtet Haus“ iſt ein ſchönes Beiſpiel tiefer Zweck-
mäßigkeit im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich
der epiſchen Poeſie; Göthe’s Geiſt erweist ſich in der einfachen Nothwen-
digkeit und plaſtiſchen Sicherheit ſeiner Bilder als vorzüglich epiſch, ſelbſt
im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächſtes, beſtes
Beiſpiel das tief ſchlagende Bild des Oreſtes in der Iphigenie von den
Furien heraus, die ihn nur ſo lange verſchonen, als er im Heiligthum
Dianen’s weilt: „Wölfe harren ſo um den Baum, auf den ein Reiſender
ſich rettete“. Auch in der Proſa iſt er außerordentlich reich an ſolchen ruhig
treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreiſe: „die Menſchen
ſtreichen ſich bei meinem Incognito recht auf mir auf wie auf einem Probir-
ſteine“; — „behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruſte, vielleicht wird’s
mit mir wie mit gefrornem Wein“; — aus der Schweiz: „Himmelsluft,
weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und ſüß in
der Seele“). Es muß aber auch ächt poetiſche Bilder, und zwar im ernſten
Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend ſind.
Dieß führt auf den Unterſchied der Style und muß bei der Betrachtung
deſſelben zur Sprache kommen.

Die Vorſchrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter
nicht unbedingt binden. Wirkliche Verſtöße, die man als ſog. Katachreſen
zu den Sünden gegen den Geſchmack zählen muß, finden nur da Statt, wo
durch einen eigentlichen lapsus der Aufmerkſamkeit aus einer Vergleichungs-
Region in eine andere übergeſchritten wird, die keine naturgemäße Ver-

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[1230/0094] Mutter kam mir in’s Auge und übergab mich den Thränen, ſo wird ſich eine lebendige Phantaſie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Ver- gleichung auflöſen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männ- lichen Herr, ſondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als ſchwebte der Geiſt der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und ſchmölze ſeine männliche Härte. Vergleichungen der äußern Natur mit Geiſtigem werden froſtig, allegoriſch, wenn das Bild zu beſtimmt heraus und neben die Sache hingeſtellt iſt. Es mögen wohl z. B. in gewiſſer Stimmung die letzten Wellenſchläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das Nachzucken einer Leidenſchaft, die ſich eben erſt gelegt hat, aber wenn Lenau, nachdem die Naturerſcheinung geſchildert iſt, mit „alſo zuckt nach ſtarkem Weinen“ u. ſ. w. fortfährt, ſo tritt das moraliſche Phänomen äußerlich neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieſes, ſtatt innig hinein- gefühlt zu ſein. In aller Vergleichung ſoll natürlich der Vergleichungspunct treffend, ſchlagend ſein. Othello’s Bild für das ſchauerliche Nachwirken von Jago’s Einflüſterungen über Desdemona’s Tuch: „o, es ſchwebt um mich ſo wie der Rab’ um ein verpeſtet Haus“ iſt ein ſchönes Beiſpiel tiefer Zweck- mäßigkeit im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich der epiſchen Poeſie; Göthe’s Geiſt erweist ſich in der einfachen Nothwen- digkeit und plaſtiſchen Sicherheit ſeiner Bilder als vorzüglich epiſch, ſelbſt im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächſtes, beſtes Beiſpiel das tief ſchlagende Bild des Oreſtes in der Iphigenie von den Furien heraus, die ihn nur ſo lange verſchonen, als er im Heiligthum Dianen’s weilt: „Wölfe harren ſo um den Baum, auf den ein Reiſender ſich rettete“. Auch in der Proſa iſt er außerordentlich reich an ſolchen ruhig treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreiſe: „die Menſchen ſtreichen ſich bei meinem Incognito recht auf mir auf wie auf einem Probir- ſteine“; — „behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruſte, vielleicht wird’s mit mir wie mit gefrornem Wein“; — aus der Schweiz: „Himmelsluft, weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und ſüß in der Seele“). Es muß aber auch ächt poetiſche Bilder, und zwar im ernſten Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend ſind. Dieß führt auf den Unterſchied der Style und muß bei der Betrachtung deſſelben zur Sprache kommen. Die Vorſchrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter nicht unbedingt binden. Wirkliche Verſtöße, die man als ſog. Katachreſen zu den Sünden gegen den Geſchmack zählen muß, finden nur da Statt, wo durch einen eigentlichen lapsus der Aufmerkſamkeit aus einer Vergleichungs- Region in eine andere übergeſchritten wird, die keine naturgemäße Ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/94>, abgerufen am 22.11.2024.