entgehen, und die freilich unbequemen Benennungen: naturalistisch und individualisirend vorgezogen; wir werden jedoch von nun an beide Begriffe auch in dem Ausdrucke charakteristisch zusammenfassen. In §. 39 ist gezeigt, daß der Begriff des Charakteristischen in der Lehre vom Schönen an sich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgesorgt, ihm in der concreten Kunstwelt ohne Mißverständniß seine Anwendung zu sichern. Uebrigens vermeiden wir es, diesen Styl romantisch zu nennen, ihm also einen geschichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keines- wegs ebenso auf einem musterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben wäre, wie dieser auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; seine Grund- lagen sind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinschaftlich, den Unter- schied in der Entwicklung derselben verfolgen wir hier noch nicht. Der Be- griff des Romantischen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittel- alter zu erneuern, einen schiefen Nebenton bekommen. -- Das Schwere in den Unterscheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poesie noch mehr, als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen sich mannigfach durchkreuzen und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Mischungen aus dem Ent- gegengesetzten sich darstellen. Daraus erhellt jedoch nur um so mehr die besondere chemische Kraft, welche in der Poesie diesem Gegensatze zukommt.
§. 850.
Der poetische Styl, wie er im sprachlichen Ausdruck erscheint, hat1. die prosaisch gewordene Sprache so zu behandeln, daß mit der Bezeichnung auch das Bild des Bezeichneten in selbständiger Kraft vor der Phantasie ersteht und sich lebendig bewegt. Die Dichtkunst wirkt dadurch schöpferisch und Sprach- bildend stets von Neuem auch auf die Prosa zurück. Da aber das Ganze2. ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranschaulichung gerichtet ist und da sie die Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), so ist sie in den ein- zelnen Mitteln einfach und spart den reicheren Glanz den Momenten der entsprechenden Stimmung auf. Systematische Außählung dieser Mittel setzt die Prosa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die wesentlichen Formen derselben zu unterscheiden.
1. Wir haben (§. 836 Anm.) gesehen, wie zwar auch im gewöhnlichen Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten vor die innere Vorstellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und un- bestimmt bleibt, wie mit dem Fortschritte des Bildungszwecks der Sprache das Band zwischen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie sie dadurch ge- worden, dient dem prosaischen Bewußtsein, das keine Absicht haben kann,
entgehen, und die freilich unbequemen Benennungen: naturaliſtiſch und individualiſirend vorgezogen; wir werden jedoch von nun an beide Begriffe auch in dem Ausdrucke charakteriſtiſch zuſammenfaſſen. In §. 39 iſt gezeigt, daß der Begriff des Charakteriſtiſchen in der Lehre vom Schönen an ſich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgeſorgt, ihm in der concreten Kunſtwelt ohne Mißverſtändniß ſeine Anwendung zu ſichern. Uebrigens vermeiden wir es, dieſen Styl romantiſch zu nennen, ihm alſo einen geſchichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keines- wegs ebenſo auf einem muſterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben wäre, wie dieſer auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; ſeine Grund- lagen ſind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinſchaftlich, den Unter- ſchied in der Entwicklung derſelben verfolgen wir hier noch nicht. Der Be- griff des Romantiſchen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittel- alter zu erneuern, einen ſchiefen Nebenton bekommen. — Das Schwere in den Unterſcheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poeſie noch mehr, als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen ſich mannigfach durchkreuzen und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Miſchungen aus dem Ent- gegengeſetzten ſich darſtellen. Daraus erhellt jedoch nur um ſo mehr die beſondere chemiſche Kraft, welche in der Poeſie dieſem Gegenſatze zukommt.
§. 850.
Der poetiſche Styl, wie er im ſprachlichen Ausdruck erſcheint, hat1. die proſaiſch gewordene Sprache ſo zu behandeln, daß mit der Bezeichnung auch das Bild des Bezeichneten in ſelbſtändiger Kraft vor der Phantaſie erſteht und ſich lebendig bewegt. Die Dichtkunſt wirkt dadurch ſchöpferiſch und Sprach- bildend ſtets von Neuem auch auf die Proſa zurück. Da aber das Ganze2. ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranſchaulichung gerichtet iſt und da ſie die Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), ſo iſt ſie in den ein- zelnen Mitteln einfach und ſpart den reicheren Glanz den Momenten der entſprechenden Stimmung auf. Syſtematiſche Außählung dieſer Mittel ſetzt die Proſa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die weſentlichen Formen derſelben zu unterſcheiden.
1. Wir haben (§. 836 Anm.) geſehen, wie zwar auch im gewöhnlichen Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten vor die innere Vorſtellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und un- beſtimmt bleibt, wie mit dem Fortſchritte des Bildungszwecks der Sprache das Band zwiſchen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie ſie dadurch ge- worden, dient dem proſaiſchen Bewußtſein, das keine Abſicht haben kann,
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auch in dem Ausdrucke charakteriſtiſch zuſammenfaſſen. In §. 39 iſt
gezeigt, daß der Begriff des Charakteriſtiſchen in der Lehre vom Schönen
an ſich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgeſorgt, ihm in
der concreten Kunſtwelt ohne Mißverſtändniß ſeine Anwendung zu ſichern.
Uebrigens vermeiden wir es, dieſen Styl romantiſch zu nennen, ihm alſo
einen geſchichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keines-
wegs ebenſo auf einem muſterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben
wäre, wie dieſer auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; ſeine Grund-
lagen ſind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinſchaftlich, den Unter-
ſchied in der Entwicklung derſelben verfolgen wir hier noch nicht. Der Be-
griff des Romantiſchen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittel-
alter zu erneuern, einen ſchiefen Nebenton bekommen. — Das Schwere in
den Unterſcheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poeſie noch mehr,
als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen ſich mannigfach durchkreuzen
und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Miſchungen aus dem Ent-
gegengeſetzten ſich darſtellen. Daraus erhellt jedoch nur um ſo mehr die
beſondere chemiſche Kraft, welche in der Poeſie dieſem Gegenſatze zukommt.
§. 850.
Der poetiſche Styl, wie er im ſprachlichen Ausdruck erſcheint, hat
die proſaiſch gewordene Sprache ſo zu behandeln, daß mit der Bezeichnung
auch das Bild des Bezeichneten in ſelbſtändiger Kraft vor der Phantaſie erſteht
und ſich lebendig bewegt. Die Dichtkunſt wirkt dadurch ſchöpferiſch und Sprach-
bildend ſtets von Neuem auch auf die Proſa zurück. Da aber das Ganze
ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranſchaulichung gerichtet iſt und da ſie die
Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), ſo iſt ſie in den ein-
zelnen Mitteln einfach und ſpart den reicheren Glanz den Momenten der
entſprechenden Stimmung auf. Syſtematiſche Außählung dieſer Mittel ſetzt die
Proſa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die weſentlichen
Formen derſelben zu unterſcheiden.
1. Wir haben (§. 836 Anm.) geſehen, wie zwar auch im gewöhnlichen
Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten
vor die innere Vorſtellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und un-
beſtimmt bleibt, wie mit dem Fortſchritte des Bildungszwecks der Sprache
das Band zwiſchen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus
bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie ſie dadurch ge-
worden, dient dem proſaiſchen Bewußtſein, das keine Abſicht haben kann,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/79>, abgerufen am 16.02.2025.
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