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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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zur Sprache kommt. Nur gewisse Bestimmungen, Definitionen desselben
sind hier noch zu berücksichtigen, um Einwürfen vorzubeugen. In der
Grundlage seiner Weltanschauung haben wir den classischen Styl wesent-
lich als einen objectiven bestimmt ("das Ideal der objectiven Phantasie"
§. 425). Widerspricht dieß nicht dem Begriffe des Idealistischen? Wie kann
man von dem klar schauenden, gegenständlichen Göthe und von dem sub-
jectiven Schiller gemeinschaftlich das Classiciren aussagen? Allein man
muß richtig unterscheiden. Im classischen Style wird verlangt, daß die
einzelne Gestalt schön sei, daher greift er nicht tief in die spezielleren Züge
der Existenz hinein, gibt mehr Typen, als Individuen, berührt nur die
reinen, lichten Gipfel der Dinge. Göthe und Schiller in ihrer durch die
Alten geläuterten Periode haben dieß gemein; von dem Unterschiede, der
übrigens zwischen ihnen stattfindet, ist hier zunächst ganz abzusehen und
ebenso von den Einschränkungen, die im Gemeinschaftlichen selbst daraus
entspringen, daß Schiller vermöge seiner drastischen Energie durch Shakes-
peares Einfluß vielfach zur gesättigteren, keckeren Farbengebung geführt wird.
Durch jene Keuschheit nun, die sich scheut, in die Einzelzüge der Dinge bis
zu einer gewissen Spezialität einzugehen, ist der Geist des classischen Styls
idealistisch, nimmt die großen Schritte des Kothurns; dem unbeschadet ist
aber seine Auffassung an sich streng sächlich, ihr verwandelt sich alles Innere
ganz in ein Bild, das so fest und in so klaren Umrissen dasteht, wie eine
Statue; sie setzt keinen Rest von Subjectivität. Von dieser Seite be-
trachtet, steht Schiller der classischen Auffassung ganz ferne und fällt sogar
in die rhetorische Entmischung der ästhetischen Elemente (§. 848). Wir
haben den Charakter des classischen Ideals früher auch einen realistischen
genannt (§. 439, 3.); darauf kommen wir nachher zurück, um namentlich
in dieser Bezeichnung verwirrendem Mißverständnisse zu steuern. Vorerst ist
noch zu verhüten, daß nicht ein Begriff zur Unzeit herbeigebracht werde,
welcher den richtigen Gegensatz ebenfalls umzustoßen droht: in gewissem
Sinn ist nämlich Göthe subjectiver, als Schiller, indem jener in Gemüths-
kämpfen, dieser in Thaten und Geschichte als dem eigentlichen Elemente
seines Dichterberufes sich bewegt; dieß geht aber die Grundstimmung der
ganzen Persönlichkeit und den durch sie bestimmten Inhalt, nicht den
Styl der Poesie an; es hat freilich auch wesentlichen Einfluß auf den-
selben, allein diese Ursache des verschiedenen Colorits gehört nicht hierher.
Wir gehen jetzt hinüber zu dem entgegengesetzten Style, um hier ebenso
die Begriffe zu ordnen. Schiller nennt ihn sentimental; diese Begriffsbe-
stimmung ist im Ganzen und Großen beurtheilt in Anm. 1 zu §. 458.
Es bleibt das Wahre, daß im romantischen und modernen Ideale die innere
Welt über die äußere wiegt und daher ein subjectiver Stimmungshauch
sich über alle Gebilde der Poesie legt, in welchem die Umrisse zu verzittern

zur Sprache kommt. Nur gewiſſe Beſtimmungen, Definitionen deſſelben
ſind hier noch zu berückſichtigen, um Einwürfen vorzubeugen. In der
Grundlage ſeiner Weltanſchauung haben wir den claſſiſchen Styl weſent-
lich als einen objectiven beſtimmt („das Ideal der objectiven Phantaſie“
§. 425). Widerſpricht dieß nicht dem Begriffe des Idealiſtiſchen? Wie kann
man von dem klar ſchauenden, gegenſtändlichen Göthe und von dem ſub-
jectiven Schiller gemeinſchaftlich das Claſſiciren ausſagen? Allein man
muß richtig unterſcheiden. Im claſſiſchen Style wird verlangt, daß die
einzelne Geſtalt ſchön ſei, daher greift er nicht tief in die ſpezielleren Züge
der Exiſtenz hinein, gibt mehr Typen, als Individuen, berührt nur die
reinen, lichten Gipfel der Dinge. Göthe und Schiller in ihrer durch die
Alten geläuterten Periode haben dieß gemein; von dem Unterſchiede, der
übrigens zwiſchen ihnen ſtattfindet, iſt hier zunächſt ganz abzuſehen und
ebenſo von den Einſchränkungen, die im Gemeinſchaftlichen ſelbſt daraus
entſpringen, daß Schiller vermöge ſeiner draſtiſchen Energie durch Shakes-
peares Einfluß vielfach zur geſättigteren, keckeren Farbengebung geführt wird.
Durch jene Keuſchheit nun, die ſich ſcheut, in die Einzelzüge der Dinge bis
zu einer gewiſſen Spezialität einzugehen, iſt der Geiſt des claſſiſchen Styls
idealiſtiſch, nimmt die großen Schritte des Kothurns; dem unbeſchadet iſt
aber ſeine Auffaſſung an ſich ſtreng ſächlich, ihr verwandelt ſich alles Innere
ganz in ein Bild, das ſo feſt und in ſo klaren Umriſſen daſteht, wie eine
Statue; ſie ſetzt keinen Reſt von Subjectivität. Von dieſer Seite be-
trachtet, ſteht Schiller der claſſiſchen Auffaſſung ganz ferne und fällt ſogar
in die rhetoriſche Entmiſchung der äſthetiſchen Elemente (§. 848). Wir
haben den Charakter des claſſiſchen Ideals früher auch einen realiſtiſchen
genannt (§. 439, 3.); darauf kommen wir nachher zurück, um namentlich
in dieſer Bezeichnung verwirrendem Mißverſtändniſſe zu ſteuern. Vorerſt iſt
noch zu verhüten, daß nicht ein Begriff zur Unzeit herbeigebracht werde,
welcher den richtigen Gegenſatz ebenfalls umzuſtoßen droht: in gewiſſem
Sinn iſt nämlich Göthe ſubjectiver, als Schiller, indem jener in Gemüths-
kämpfen, dieſer in Thaten und Geſchichte als dem eigentlichen Elemente
ſeines Dichterberufes ſich bewegt; dieß geht aber die Grundſtimmung der
ganzen Perſönlichkeit und den durch ſie beſtimmten Inhalt, nicht den
Styl der Poeſie an; es hat freilich auch weſentlichen Einfluß auf den-
ſelben, allein dieſe Urſache des verſchiedenen Colorits gehört nicht hierher.
Wir gehen jetzt hinüber zu dem entgegengeſetzten Style, um hier ebenſo
die Begriffe zu ordnen. Schiller nennt ihn ſentimental; dieſe Begriffsbe-
ſtimmung iſt im Ganzen und Großen beurtheilt in Anm. 1 zu §. 458.
Es bleibt das Wahre, daß im romantiſchen und modernen Ideale die innere
Welt über die äußere wiegt und daher ein ſubjectiver Stimmungshauch
ſich über alle Gebilde der Poeſie legt, in welchem die Umriſſe zu verzittern

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[1213/0077] zur Sprache kommt. Nur gewiſſe Beſtimmungen, Definitionen deſſelben ſind hier noch zu berückſichtigen, um Einwürfen vorzubeugen. In der Grundlage ſeiner Weltanſchauung haben wir den claſſiſchen Styl weſent- lich als einen objectiven beſtimmt („das Ideal der objectiven Phantaſie“ §. 425). Widerſpricht dieß nicht dem Begriffe des Idealiſtiſchen? Wie kann man von dem klar ſchauenden, gegenſtändlichen Göthe und von dem ſub- jectiven Schiller gemeinſchaftlich das Claſſiciren ausſagen? Allein man muß richtig unterſcheiden. Im claſſiſchen Style wird verlangt, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſei, daher greift er nicht tief in die ſpezielleren Züge der Exiſtenz hinein, gibt mehr Typen, als Individuen, berührt nur die reinen, lichten Gipfel der Dinge. Göthe und Schiller in ihrer durch die Alten geläuterten Periode haben dieß gemein; von dem Unterſchiede, der übrigens zwiſchen ihnen ſtattfindet, iſt hier zunächſt ganz abzuſehen und ebenſo von den Einſchränkungen, die im Gemeinſchaftlichen ſelbſt daraus entſpringen, daß Schiller vermöge ſeiner draſtiſchen Energie durch Shakes- peares Einfluß vielfach zur geſättigteren, keckeren Farbengebung geführt wird. Durch jene Keuſchheit nun, die ſich ſcheut, in die Einzelzüge der Dinge bis zu einer gewiſſen Spezialität einzugehen, iſt der Geiſt des claſſiſchen Styls idealiſtiſch, nimmt die großen Schritte des Kothurns; dem unbeſchadet iſt aber ſeine Auffaſſung an ſich ſtreng ſächlich, ihr verwandelt ſich alles Innere ganz in ein Bild, das ſo feſt und in ſo klaren Umriſſen daſteht, wie eine Statue; ſie ſetzt keinen Reſt von Subjectivität. Von dieſer Seite be- trachtet, ſteht Schiller der claſſiſchen Auffaſſung ganz ferne und fällt ſogar in die rhetoriſche Entmiſchung der äſthetiſchen Elemente (§. 848). Wir haben den Charakter des claſſiſchen Ideals früher auch einen realiſtiſchen genannt (§. 439, 3.); darauf kommen wir nachher zurück, um namentlich in dieſer Bezeichnung verwirrendem Mißverſtändniſſe zu ſteuern. Vorerſt iſt noch zu verhüten, daß nicht ein Begriff zur Unzeit herbeigebracht werde, welcher den richtigen Gegenſatz ebenfalls umzuſtoßen droht: in gewiſſem Sinn iſt nämlich Göthe ſubjectiver, als Schiller, indem jener in Gemüths- kämpfen, dieſer in Thaten und Geſchichte als dem eigentlichen Elemente ſeines Dichterberufes ſich bewegt; dieß geht aber die Grundſtimmung der ganzen Perſönlichkeit und den durch ſie beſtimmten Inhalt, nicht den Styl der Poeſie an; es hat freilich auch weſentlichen Einfluß auf den- ſelben, allein dieſe Urſache des verſchiedenen Colorits gehört nicht hierher. Wir gehen jetzt hinüber zu dem entgegengeſetzten Style, um hier ebenſo die Begriffe zu ordnen. Schiller nennt ihn ſentimental; dieſe Begriffsbe- ſtimmung iſt im Ganzen und Großen beurtheilt in Anm. 1 zu §. 458. Es bleibt das Wahre, daß im romantiſchen und modernen Ideale die innere Welt über die äußere wiegt und daher ein ſubjectiver Stimmungshauch ſich über alle Gebilde der Poeſie legt, in welchem die Umriſſe zu verzittern

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/77>, abgerufen am 22.11.2024.