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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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in ihren einzelnen, beschränkten Gebieten leistet sie dieß, denn jedes derselben
überläßt die Verfolgung gewisser Durchkreuzungen in ihre Causalität einem
andern, die Philosophie nur überblickt das Ganze und versöhnt mit jeder
Störung jedes Zusammenhangs auf jedem Punct. Im Reiche des Schönen
dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in seiner,
die jeweilige Linie störenden Form entweder gar nicht zugelassen, als nicht
seiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komisches aufgehoben, nimmer-
mehr aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zusammenhangs in
Natur und Geschichte auf seine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt.
Hier sind wesentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun
W. von Humboldt den falschen Begriff mit seiner richtigen Idee, daß das
Schöne eine Totalität, ein geschlossenes, nur von sich selbst abhängiges
Ganzes ist, vereinigen? Er verwechselt die organische Motivirung im
Kunstwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Idealgestalt
alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in sich trägt, mit dem
allseitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge
außerhalb des Kunstwerks stehen und wodurch auf dem Standpuncte
der Prosa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weise, nämlich auf
Kosten der freien Selbständigkeit.

Wir werfen noch einen Blick auf ein besonderes Gebiet der Prosa,
die Geschichte. Das Wesentliche ist allerdings in anderem Zusammen-
hange (§. 400) schon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu sagen übrig.
Die Grundlage des historischen Standpuncts bleibt unbeschadet seines
höheren Zieles wesentlich die, daß man erfahre und wisse, was geschehen
ist, wogegen der Dichter zur Anschauung bringt, was nie und immer ge-
schieht, jedoch in solcher individueller Bestimmtheit, daß der Zuhörer über-
zeugt ist, es könne in einer bestimmten Zeit, an bestimmtem Ort so und
nicht anders geschehen sein, oder richtiger: es müßte, wenn es geschähe,
so und nicht anders geschehen. Aristoteles sagt in der schon zu §. 400
angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunst stelle mehr das All-
gemeine, die Geschichte das Einzelne dar, und das Allgemeine bestimmt er
näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem bestimmten
Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit haben. Statt
des Letztern würden wir sagen: innere Wahrheit; eine logische Verwirrung
aber liegt darin, daß durch die Worte: "einem bestimmten Manne" der
Begriff des Einzelnen, der vorher die Geschichte von der Poesie unter-
scheiden sollte, gerade auch in diese aufgenommen ist. Aristoteles stellt hie-
mit die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt
sei mit dem überzeugenden Ausdruck der Individualität; daß das Ewige
sich darstelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Be-
dingungen der Wirklichkeit zu sein. Das Richtige ist, daß sowohl die

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 78

in ihren einzelnen, beſchränkten Gebieten leiſtet ſie dieß, denn jedes derſelben
überläßt die Verfolgung gewiſſer Durchkreuzungen in ihre Cauſalität einem
andern, die Philoſophie nur überblickt das Ganze und verſöhnt mit jeder
Störung jedes Zuſammenhangs auf jedem Punct. Im Reiche des Schönen
dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in ſeiner,
die jeweilige Linie ſtörenden Form entweder gar nicht zugelaſſen, als nicht
ſeiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komiſches aufgehoben, nimmer-
mehr aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zuſammenhangs in
Natur und Geſchichte auf ſeine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt.
Hier ſind weſentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun
W. von Humboldt den falſchen Begriff mit ſeiner richtigen Idee, daß das
Schöne eine Totalität, ein geſchloſſenes, nur von ſich ſelbſt abhängiges
Ganzes iſt, vereinigen? Er verwechſelt die organiſche Motivirung im
Kunſtwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Idealgeſtalt
alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in ſich trägt, mit dem
allſeitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge
außerhalb des Kunſtwerks ſtehen und wodurch auf dem Standpuncte
der Proſa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weiſe, nämlich auf
Koſten der freien Selbſtändigkeit.

Wir werfen noch einen Blick auf ein beſonderes Gebiet der Proſa,
die Geſchichte. Das Weſentliche iſt allerdings in anderem Zuſammen-
hange (§. 400) ſchon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu ſagen übrig.
Die Grundlage des hiſtoriſchen Standpuncts bleibt unbeſchadet ſeines
höheren Zieles weſentlich die, daß man erfahre und wiſſe, was geſchehen
iſt, wogegen der Dichter zur Anſchauung bringt, was nie und immer ge-
ſchieht, jedoch in ſolcher individueller Beſtimmtheit, daß der Zuhörer über-
zeugt iſt, es könne in einer beſtimmten Zeit, an beſtimmtem Ort ſo und
nicht anders geſchehen ſein, oder richtiger: es müßte, wenn es geſchähe,
ſo und nicht anders geſchehen. Ariſtoteles ſagt in der ſchon zu §. 400
angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunſt ſtelle mehr das All-
gemeine, die Geſchichte das Einzelne dar, und das Allgemeine beſtimmt er
näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem beſtimmten
Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit haben. Statt
des Letztern würden wir ſagen: innere Wahrheit; eine logiſche Verwirrung
aber liegt darin, daß durch die Worte: „einem beſtimmten Manne“ der
Begriff des Einzelnen, der vorher die Geſchichte von der Poeſie unter-
ſcheiden ſollte, gerade auch in dieſe aufgenommen iſt. Ariſtoteles ſtellt hie-
mit die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt
ſei mit dem überzeugenden Ausdruck der Individualität; daß das Ewige
ſich darſtelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Be-
dingungen der Wirklichkeit zu ſein. Das Richtige iſt, daß ſowohl die

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 78
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[1207/0071] in ihren einzelnen, beſchränkten Gebieten leiſtet ſie dieß, denn jedes derſelben überläßt die Verfolgung gewiſſer Durchkreuzungen in ihre Cauſalität einem andern, die Philoſophie nur überblickt das Ganze und verſöhnt mit jeder Störung jedes Zuſammenhangs auf jedem Punct. Im Reiche des Schönen dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in ſeiner, die jeweilige Linie ſtörenden Form entweder gar nicht zugelaſſen, als nicht ſeiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komiſches aufgehoben, nimmer- mehr aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zuſammenhangs in Natur und Geſchichte auf ſeine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt. Hier ſind weſentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun W. von Humboldt den falſchen Begriff mit ſeiner richtigen Idee, daß das Schöne eine Totalität, ein geſchloſſenes, nur von ſich ſelbſt abhängiges Ganzes iſt, vereinigen? Er verwechſelt die organiſche Motivirung im Kunſtwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Idealgeſtalt alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in ſich trägt, mit dem allſeitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge außerhalb des Kunſtwerks ſtehen und wodurch auf dem Standpuncte der Proſa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weiſe, nämlich auf Koſten der freien Selbſtändigkeit. Wir werfen noch einen Blick auf ein beſonderes Gebiet der Proſa, die Geſchichte. Das Weſentliche iſt allerdings in anderem Zuſammen- hange (§. 400) ſchon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu ſagen übrig. Die Grundlage des hiſtoriſchen Standpuncts bleibt unbeſchadet ſeines höheren Zieles weſentlich die, daß man erfahre und wiſſe, was geſchehen iſt, wogegen der Dichter zur Anſchauung bringt, was nie und immer ge- ſchieht, jedoch in ſolcher individueller Beſtimmtheit, daß der Zuhörer über- zeugt iſt, es könne in einer beſtimmten Zeit, an beſtimmtem Ort ſo und nicht anders geſchehen ſein, oder richtiger: es müßte, wenn es geſchähe, ſo und nicht anders geſchehen. Ariſtoteles ſagt in der ſchon zu §. 400 angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunſt ſtelle mehr das All- gemeine, die Geſchichte das Einzelne dar, und das Allgemeine beſtimmt er näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem beſtimmten Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit haben. Statt des Letztern würden wir ſagen: innere Wahrheit; eine logiſche Verwirrung aber liegt darin, daß durch die Worte: „einem beſtimmten Manne“ der Begriff des Einzelnen, der vorher die Geſchichte von der Poeſie unter- ſcheiden ſollte, gerade auch in dieſe aufgenommen iſt. Ariſtoteles ſtellt hie- mit die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt ſei mit dem überzeugenden Ausdruck der Individualität; daß das Ewige ſich darſtelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Be- dingungen der Wirklichkeit zu ſein. Das Richtige iſt, daß ſowohl die Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 78

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/71>, abgerufen am 25.11.2024.