In der Poesie kommt zuerst das Stylgesetz in Betracht, weil unabhängig von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auf- fassung ausgeht und nur an die Gesetze gebunden ist, die sich aus dem Wesen 2.der Phantasie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erste Bestimmung dieses Gesetzes ist negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern Künste gerichtet, welche der Poesie dadurch nahe liegt, daß in gewissem Sinne diese in ihr vereinigt sind. Die Poesie vergeht sich in die Musik, wenn sie gestaltlos im unbestimmten Weben der subjectiven Empfindung sich bewegt oder wenn sie die Technik der künstlerischen Sprachform zu ihrem hauptsächlichen Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.
1. Wollte man in der speziellen Erörterung des Wesens der Poesie vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunst ausgehen, so geriethe man in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und wesentlichen Gegensatz in der musikalischen Behandlung der Sprache, der in der classischen und roman- tischen Form gegeben ist, darstellen müßte, ehe man seinen innern Grund, den Unterschied der ganzen Gefühls- und Auffassungsweise, in's Licht gesetzt hätte. Die Betrachtung dieses historischen Unterschieds gehört aber allerdings in den gegenwärtigen Abschnitt, er kann nebst allem Historischen nicht in einen besondern geschichtlichen Theil verwiesen werden, denn die Trennung des Geschichtlichen vom Systematischen ist überhaupt in der Lehre von der Dichtkunst nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künsten, möglich. Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier aus der Darstellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterschiede, welche durch die Geschichte der Poesie in ihnen ausgebildet worden sind, einem besondern Abschnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich ist, welche schleppende Wiederholung entstünde. Ebenso erhellt von selbst, daß die Art der poetischen Darstellung, wie sie in ihrem Unterschiede von der prosaischen demnächst zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Styl- gesetzes schon voraussetzt, denn eine wesentliche Verschiedenheit des Weges, den das dichterische Verfahren in dieser Beziehung einschlägt, hat ihren Grund ebenfalls in jenem Gegensatze der ganzen Auffassungsweise, der an sich im Stylprinzip eingeschlossen ist. Dieß ist der negative Beweis für die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelständen, die sich im andern Fall ergäben; der positive liegt darin, daß die Poesie kein eigentliches Ma- terial mehr hat. Das Verfahren dieser Kunst ist nicht, wie bei den andern
β. Die einzelnen Momente.
§. 846.
1.
In der Poeſie kommt zuerſt das Stylgeſetz in Betracht, weil unabhängig von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auf- faſſung ausgeht und nur an die Geſetze gebunden iſt, die ſich aus dem Weſen 2.der Phantaſie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erſte Beſtimmung dieſes Geſetzes iſt negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern Künſte gerichtet, welche der Poeſie dadurch nahe liegt, daß in gewiſſem Sinne dieſe in ihr vereinigt ſind. Die Poeſie vergeht ſich in die Muſik, wenn ſie geſtaltlos im unbeſtimmten Weben der ſubjectiven Empfindung ſich bewegt oder wenn ſie die Technik der künſtleriſchen Sprachform zu ihrem hauptſächlichen Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.
1. Wollte man in der ſpeziellen Erörterung des Weſens der Poeſie vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunſt ausgehen, ſo geriethe man in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und weſentlichen Gegenſatz in der muſikaliſchen Behandlung der Sprache, der in der claſſiſchen und roman- tiſchen Form gegeben iſt, darſtellen müßte, ehe man ſeinen innern Grund, den Unterſchied der ganzen Gefühls- und Auffaſſungsweiſe, in’s Licht geſetzt hätte. Die Betrachtung dieſes hiſtoriſchen Unterſchieds gehört aber allerdings in den gegenwärtigen Abſchnitt, er kann nebſt allem Hiſtoriſchen nicht in einen beſondern geſchichtlichen Theil verwieſen werden, denn die Trennung des Geſchichtlichen vom Syſtematiſchen iſt überhaupt in der Lehre von der Dichtkunſt nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künſten, möglich. Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier aus der Darſtellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterſchiede, welche durch die Geſchichte der Poeſie in ihnen ausgebildet worden ſind, einem beſondern Abſchnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich iſt, welche ſchleppende Wiederholung entſtünde. Ebenſo erhellt von ſelbſt, daß die Art der poetiſchen Darſtellung, wie ſie in ihrem Unterſchiede von der proſaiſchen demnächſt zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Styl- geſetzes ſchon vorausſetzt, denn eine weſentliche Verſchiedenheit des Weges, den das dichteriſche Verfahren in dieſer Beziehung einſchlägt, hat ihren Grund ebenfalls in jenem Gegenſatze der ganzen Auffaſſungsweiſe, der an ſich im Stylprinzip eingeſchloſſen iſt. Dieß iſt der negative Beweis für die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelſtänden, die ſich im andern Fall ergäben; der poſitive liegt darin, daß die Poeſie kein eigentliches Ma- terial mehr hat. Das Verfahren dieſer Kunſt iſt nicht, wie bei den andern
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β. Die einzelnen Momente.
§. 846.
In der Poeſie kommt zuerſt das Stylgeſetz in Betracht, weil unabhängig
von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auf-
faſſung ausgeht und nur an die Geſetze gebunden iſt, die ſich aus dem Weſen
der Phantaſie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erſte Beſtimmung
dieſes Geſetzes iſt negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern
Künſte gerichtet, welche der Poeſie dadurch nahe liegt, daß in gewiſſem Sinne
dieſe in ihr vereinigt ſind. Die Poeſie vergeht ſich in die Muſik, wenn ſie
geſtaltlos im unbeſtimmten Weben der ſubjectiven Empfindung ſich bewegt oder
wenn ſie die Technik der künſtleriſchen Sprachform zu ihrem hauptſächlichen
Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.
1. Wollte man in der ſpeziellen Erörterung des Weſens der Poeſie
vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunſt ausgehen, ſo geriethe man
in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und weſentlichen Gegenſatz in
der muſikaliſchen Behandlung der Sprache, der in der claſſiſchen und roman-
tiſchen Form gegeben iſt, darſtellen müßte, ehe man ſeinen innern Grund,
den Unterſchied der ganzen Gefühls- und Auffaſſungsweiſe, in’s Licht geſetzt
hätte. Die Betrachtung dieſes hiſtoriſchen Unterſchieds gehört aber allerdings
in den gegenwärtigen Abſchnitt, er kann nebſt allem Hiſtoriſchen nicht in
einen beſondern geſchichtlichen Theil verwieſen werden, denn die Trennung
des Geſchichtlichen vom Syſtematiſchen iſt überhaupt in der Lehre von der
Dichtkunſt nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künſten, möglich.
Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier
aus der Darſtellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterſchiede,
welche durch die Geſchichte der Poeſie in ihnen ausgebildet worden ſind, einem
beſondern Abſchnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich iſt, welche
ſchleppende Wiederholung entſtünde. Ebenſo erhellt von ſelbſt, daß die Art
der poetiſchen Darſtellung, wie ſie in ihrem Unterſchiede von der proſaiſchen
demnächſt zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Styl-
geſetzes ſchon vorausſetzt, denn eine weſentliche Verſchiedenheit des Weges,
den das dichteriſche Verfahren in dieſer Beziehung einſchlägt, hat ihren
Grund ebenfalls in jenem Gegenſatze der ganzen Auffaſſungsweiſe, der an
ſich im Stylprinzip eingeſchloſſen iſt. Dieß iſt der negative Beweis für
die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelſtänden, die ſich im andern
Fall ergäben; der poſitive liegt darin, daß die Poeſie kein eigentliches Ma-
terial mehr hat. Das Verfahren dieſer Kunſt iſt nicht, wie bei den andern
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/60>, abgerufen am 16.02.2025.
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