Ein Theil des großen Vorsprungs der Poesie, nicht in Eroberung neuer, aber unendlich neuer Erschöpfung der Erscheinungsgebiete, worin die andern Künste sich bewegen, ist allerdings schon in §. 838 aufgeführt; der Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Inhalt, wurde schon dort her- vorgehoben, um dann zunächst die Verluste auf demselben Boden nachzu- weisen, hierauf aber nunmehr zu dem absoluten Gewinn aufzusteigen, der für diese Verluste entschädigt. Der quantitative Umfang des Darstellbaren, von welchem dort die Rede war, ist denn eine an sich zwar höchst bedeutende, verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede ist, noch untergeordnete Eroberung. Die Poesie hat gewonnen eine Einheit des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das Werk der bildenden Kunst fesselt einen Zeitmoment im Raume, der Zuschauer löst wohl durch seine Phantasie diese Fessel wieder, indem er sich aus dem fruchtbaren Momente, den der Künstler gewählt hat, die vorhergehenden und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht unter Anleitung des Künstlers, es ist also zufällig, ob er dieß Vorher und Nachher sich richtig oder falsch, schön oder unschön vergegenwärtigt und wie weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, so ist überhaupt gar nicht zu bestimmen, an welchem Puncte dieser Reihe seine Phantasie umbiegen und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten, die ihm das Kunstwerk vor Augen stellt, zurückkehren soll. Man erkennt, daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeschlossenheit ein Grundzug von Unreife, Unvollendung ist, welcher der bildenden Kunst anhängt. Der Dichter dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt sie nicht der ungewissen Fähig- keit der allgemeinen Phantasie, er führt sie künstlerisch gebildet an unserem innern Anschauen vorüber, beginnt und schließt sie, wo der innere Einheits- und Lebenspunct seines Kunstwerks es verlangt; wir sehen den Apollo von Belvedere nicht nur, wie er abgeschossen hat und dem Schusse triumphirend nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umschnürt in Todesschmerz aufstöhnt, sondern jenen, wie er den Feind ersieht, wie er schießt und nachher in seiner Götterruhe zurückkehrt, diesen, wie er die dä- monischen Thiere mit Grauen erblickt, sich mit seinen Söhnen auf den Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Bissen mit ihnen, eine tragische Leichengruppe, hingestreckt liegt. Nun erst nehme man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher schon in §. 838 hervorgehoben ist: ebenso bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächst den Mittelpunct seiner Darstellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit, was rings diese Gruppe umgibt, soweit es ihm ästhetisch beliebt, seinen Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Mo- menten fort; eine ganze breite Masse der verschiedensten Gegenstände in den verschiedensten Zuständen und Stimmungen kann er vor uns hinführen,
Ein Theil des großen Vorſprungs der Poeſie, nicht in Eroberung neuer, aber unendlich neuer Erſchöpfung der Erſcheinungsgebiete, worin die andern Künſte ſich bewegen, iſt allerdings ſchon in §. 838 aufgeführt; der Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Inhalt, wurde ſchon dort her- vorgehoben, um dann zunächſt die Verluſte auf demſelben Boden nachzu- weiſen, hierauf aber nunmehr zu dem abſoluten Gewinn aufzuſteigen, der für dieſe Verluſte entſchädigt. Der quantitative Umfang des Darſtellbaren, von welchem dort die Rede war, iſt denn eine an ſich zwar höchſt bedeutende, verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede iſt, noch untergeordnete Eroberung. Die Poeſie hat gewonnen eine Einheit des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das Werk der bildenden Kunſt feſſelt einen Zeitmoment im Raume, der Zuſchauer löst wohl durch ſeine Phantaſie dieſe Feſſel wieder, indem er ſich aus dem fruchtbaren Momente, den der Künſtler gewählt hat, die vorhergehenden und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht unter Anleitung des Künſtlers, es iſt alſo zufällig, ob er dieß Vorher und Nachher ſich richtig oder falſch, ſchön oder unſchön vergegenwärtigt und wie weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, ſo iſt überhaupt gar nicht zu beſtimmen, an welchem Puncte dieſer Reihe ſeine Phantaſie umbiegen und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten, die ihm das Kunſtwerk vor Augen ſtellt, zurückkehren ſoll. Man erkennt, daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeſchloſſenheit ein Grundzug von Unreife, Unvollendung iſt, welcher der bildenden Kunſt anhängt. Der Dichter dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt ſie nicht der ungewiſſen Fähig- keit der allgemeinen Phantaſie, er führt ſie künſtleriſch gebildet an unſerem innern Anſchauen vorüber, beginnt und ſchließt ſie, wo der innere Einheits- und Lebenspunct ſeines Kunſtwerks es verlangt; wir ſehen den Apollo von Belvedere nicht nur, wie er abgeſchoſſen hat und dem Schuſſe triumphirend nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umſchnürt in Todesſchmerz aufſtöhnt, ſondern jenen, wie er den Feind erſieht, wie er ſchießt und nachher in ſeiner Götterruhe zurückkehrt, dieſen, wie er die dä- moniſchen Thiere mit Grauen erblickt, ſich mit ſeinen Söhnen auf den Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Biſſen mit ihnen, eine tragiſche Leichengruppe, hingeſtreckt liegt. Nun erſt nehme man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher ſchon in §. 838 hervorgehoben iſt: ebenſo bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächſt den Mittelpunct ſeiner Darſtellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit, was rings dieſe Gruppe umgibt, ſoweit es ihm äſthetiſch beliebt, ſeinen Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Mo- menten fort; eine ganze breite Maſſe der verſchiedenſten Gegenſtände in den verſchiedenſten Zuſtänden und Stimmungen kann er vor uns hinführen,
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[1183/0047]
Ein Theil des großen Vorſprungs der Poeſie, nicht in Eroberung
neuer, aber unendlich neuer Erſchöpfung der Erſcheinungsgebiete, worin die
andern Künſte ſich bewegen, iſt allerdings ſchon in §. 838 aufgeführt; der
Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Inhalt, wurde ſchon dort her-
vorgehoben, um dann zunächſt die Verluſte auf demſelben Boden nachzu-
weiſen, hierauf aber nunmehr zu dem abſoluten Gewinn aufzuſteigen, der
für dieſe Verluſte entſchädigt. Der quantitative Umfang des Darſtellbaren,
von welchem dort die Rede war, iſt denn eine an ſich zwar höchſt bedeutende,
verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede iſt,
noch untergeordnete Eroberung. Die Poeſie hat gewonnen eine Einheit
des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das
Werk der bildenden Kunſt feſſelt einen Zeitmoment im Raume, der Zuſchauer
löst wohl durch ſeine Phantaſie dieſe Feſſel wieder, indem er ſich aus dem
fruchtbaren Momente, den der Künſtler gewählt hat, die vorhergehenden
und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht
unter Anleitung des Künſtlers, es iſt alſo zufällig, ob er dieß Vorher und
Nachher ſich richtig oder falſch, ſchön oder unſchön vergegenwärtigt und wie
weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, ſo iſt überhaupt gar nicht
zu beſtimmen, an welchem Puncte dieſer Reihe ſeine Phantaſie umbiegen
und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten,
die ihm das Kunſtwerk vor Augen ſtellt, zurückkehren ſoll. Man erkennt,
daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeſchloſſenheit ein Grundzug von
Unreife, Unvollendung iſt, welcher der bildenden Kunſt anhängt. Der Dichter
dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt ſie nicht der ungewiſſen Fähig-
keit der allgemeinen Phantaſie, er führt ſie künſtleriſch gebildet an unſerem
innern Anſchauen vorüber, beginnt und ſchließt ſie, wo der innere Einheits-
und Lebenspunct ſeines Kunſtwerks es verlangt; wir ſehen den Apollo von
Belvedere nicht nur, wie er abgeſchoſſen hat und dem Schuſſe triumphirend
nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umſchnürt in
Todesſchmerz aufſtöhnt, ſondern jenen, wie er den Feind erſieht, wie er
ſchießt und nachher in ſeiner Götterruhe zurückkehrt, dieſen, wie er die dä-
moniſchen Thiere mit Grauen erblickt, ſich mit ſeinen Söhnen auf den
Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Biſſen
mit ihnen, eine tragiſche Leichengruppe, hingeſtreckt liegt. Nun erſt nehme
man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher ſchon in §. 838
hervorgehoben iſt: ebenſo bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächſt
den Mittelpunct ſeiner Darſtellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit,
was rings dieſe Gruppe umgibt, ſoweit es ihm äſthetiſch beliebt, ſeinen
Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Mo-
menten fort; eine ganze breite Maſſe der verſchiedenſten Gegenſtände in den
verſchiedenſten Zuſtänden und Stimmungen kann er vor uns hinführen,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/47>, abgerufen am 30.01.2025.
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