gebracht hat, während er unfähig wäre, das einfachste Object, einen Trupp Bauernbursche, Musikanten, Zigeuner u. dergl. lebenswahr zu zeichnen. Man berufe sich gegen unsere Grundforderung nicht auf die lyrische Dicht- kunst. Es wird seines Orts gezeigt werden, daß ihr subjectiver Charakter keinen Einwand gegen dieselbe begründet; vorläufig darf als unbezweifelt vorausgesetzt werden, daß die zwei Gattungen, die ein umfassendes Weltbild in handelnden und leidenden Charakteren objectiv niederlegen, das Wesen der Poesie vollkommener aussprechen, daß aber auch die lyrische Dichtung eine gewisse Objectivität, eine Situation, hervortretendes Bild einer Persön- lichkeit fordert. Wir ziehen nur das Resultat aus §. 834 und 835, wenn wir nun aufstellen, daß der Standpunct der bildenden Kunst in der Poesie wiederkehrt. Im Allgemeinen hat das Wort des Simonides, die Dichtkunst sei eine redende Malerei, seine Wahrheit. Die dunkle Halle, worin sich die Kunst als Musik von der Zerstreuung des Sichtbaren tief in sich sammelte, thut sich wieder auf, die Welt liegt im hellen Sonnenschein ausgebreitet wieder vor dem Auge, aber nur vor dem der innern Vorstellung. Zunächst hat diese Erneuerung der bildenden Kunst den Sinn, daß der Dichter das Verfahren der bildenden Künste eigentlich nachahmen, ein Bild ihres spezi- fischen Werkes geben kann: Paläste vor uns aufbauen, Bildwerke, Gemälde, schöne Gärten, gymnastisches Spiel uns vorführen. Es darf nur an die herrlichen Beispiele im Homer erinnert werden. Ungleich wesentlicher jedoch, als dieses Nachbilden, ist das verwandte freie Bilden an demselben Stoffe. Dem Dichter steht der Wechsel der verschiedenen Auffassungen der bildenden Künste zu Gebot und er wird bald diese, bald jene in Anwendung bringen: er nöthigt uns, bald mit messendem, bald mit tastendem, bald mit malerischem Auge zu sehen. So kann er z. B. Erd- und Bergformen vor unserem innern Auge entweder mehr so aufbauen, daß unser Gefühl für Massenverhältnisse befriedigt wird, oder er kann ihre sanften Wölbungen, Sättel, Falten, überhaupt das Bewegtere ihrer Formen dem in das Auge übergetragenen Tasten vergegenwärtigen, oder endlich diese Auffassungsweisen ganz in eine Licht- und Farbenwirkung stimmungsvoll auflösen. Es gibt menschliche Gestalten, welche nur dem Bildhauer, andere, welche nur dem Maler günstigen Stoff bieten; der Dichter, der beides zugleich ist, hat die Mittel, sowohl die einen, als die andern, der entsprechenden Art der An- schauung lebendig entgegenzubringen. Die ächte Poesie ist im Vergegen- wärtigen so stark, daß wir meinen, ihre Gestalten greifen zu können; Homer's Gebilde leuchten in vollkommen plastischer Bestimmtheit der Formen und Umrisse, Shakespeare's Charaktere wandeln in malerischer Beleuchtung so nahe zu uns her, daß wir jeden Zug sehen können. Zu genau darf es mit diesem Eindruck allerdings nicht genommen werden, wie sich anderswo zeigen wird, die Energie seines Scheins ist aber eine vollständige.
gebracht hat, während er unfähig wäre, das einfachſte Object, einen Trupp Bauernburſche, Muſikanten, Zigeuner u. dergl. lebenswahr zu zeichnen. Man berufe ſich gegen unſere Grundforderung nicht auf die lyriſche Dicht- kunſt. Es wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr ſubjectiver Charakter keinen Einwand gegen dieſelbe begründet; vorläufig darf als unbezweifelt vorausgeſetzt werden, daß die zwei Gattungen, die ein umfaſſendes Weltbild in handelnden und leidenden Charakteren objectiv niederlegen, das Weſen der Poeſie vollkommener ausſprechen, daß aber auch die lyriſche Dichtung eine gewiſſe Objectivität, eine Situation, hervortretendes Bild einer Perſön- lichkeit fordert. Wir ziehen nur das Reſultat aus §. 834 und 835, wenn wir nun aufſtellen, daß der Standpunct der bildenden Kunſt in der Poeſie wiederkehrt. Im Allgemeinen hat das Wort des Simonides, die Dichtkunſt ſei eine redende Malerei, ſeine Wahrheit. Die dunkle Halle, worin ſich die Kunſt als Muſik von der Zerſtreuung des Sichtbaren tief in ſich ſammelte, thut ſich wieder auf, die Welt liegt im hellen Sonnenſchein ausgebreitet wieder vor dem Auge, aber nur vor dem der innern Vorſtellung. Zunächſt hat dieſe Erneuerung der bildenden Kunſt den Sinn, daß der Dichter das Verfahren der bildenden Künſte eigentlich nachahmen, ein Bild ihres ſpezi- fiſchen Werkes geben kann: Paläſte vor uns aufbauen, Bildwerke, Gemälde, ſchöne Gärten, gymnaſtiſches Spiel uns vorführen. Es darf nur an die herrlichen Beiſpiele im Homer erinnert werden. Ungleich weſentlicher jedoch, als dieſes Nachbilden, iſt das verwandte freie Bilden an demſelben Stoffe. Dem Dichter ſteht der Wechſel der verſchiedenen Auffaſſungen der bildenden Künſte zu Gebot und er wird bald dieſe, bald jene in Anwendung bringen: er nöthigt uns, bald mit meſſendem, bald mit taſtendem, bald mit maleriſchem Auge zu ſehen. So kann er z. B. Erd- und Bergformen vor unſerem innern Auge entweder mehr ſo aufbauen, daß unſer Gefühl für Maſſenverhältniſſe befriedigt wird, oder er kann ihre ſanften Wölbungen, Sättel, Falten, überhaupt das Bewegtere ihrer Formen dem in das Auge übergetragenen Taſten vergegenwärtigen, oder endlich dieſe Auffaſſungsweiſen ganz in eine Licht- und Farbenwirkung ſtimmungsvoll auflöſen. Es gibt menſchliche Geſtalten, welche nur dem Bildhauer, andere, welche nur dem Maler günſtigen Stoff bieten; der Dichter, der beides zugleich iſt, hat die Mittel, ſowohl die einen, als die andern, der entſprechenden Art der An- ſchauung lebendig entgegenzubringen. Die ächte Poeſie iſt im Vergegen- wärtigen ſo ſtark, daß wir meinen, ihre Geſtalten greifen zu können; Homer’s Gebilde leuchten in vollkommen plaſtiſcher Beſtimmtheit der Formen und Umriſſe, Shakespeare’s Charaktere wandeln in maleriſcher Beleuchtung ſo nahe zu uns her, daß wir jeden Zug ſehen können. Zu genau darf es mit dieſem Eindruck allerdings nicht genommen werden, wie ſich anderswo zeigen wird, die Energie ſeines Scheins iſt aber eine vollſtändige.
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[1172/0036]
gebracht hat, während er unfähig wäre, das einfachſte Object, einen Trupp
Bauernburſche, Muſikanten, Zigeuner u. dergl. lebenswahr zu zeichnen.
Man berufe ſich gegen unſere Grundforderung nicht auf die lyriſche Dicht-
kunſt. Es wird ſeines Orts gezeigt werden, daß ihr ſubjectiver Charakter
keinen Einwand gegen dieſelbe begründet; vorläufig darf als unbezweifelt
vorausgeſetzt werden, daß die zwei Gattungen, die ein umfaſſendes Weltbild
in handelnden und leidenden Charakteren objectiv niederlegen, das Weſen
der Poeſie vollkommener ausſprechen, daß aber auch die lyriſche Dichtung
eine gewiſſe Objectivität, eine Situation, hervortretendes Bild einer Perſön-
lichkeit fordert. Wir ziehen nur das Reſultat aus §. 834 und 835, wenn
wir nun aufſtellen, daß der Standpunct der bildenden Kunſt in der Poeſie
wiederkehrt. Im Allgemeinen hat das Wort des Simonides, die Dichtkunſt
ſei eine redende Malerei, ſeine Wahrheit. Die dunkle Halle, worin ſich die
Kunſt als Muſik von der Zerſtreuung des Sichtbaren tief in ſich ſammelte,
thut ſich wieder auf, die Welt liegt im hellen Sonnenſchein ausgebreitet
wieder vor dem Auge, aber nur vor dem der innern Vorſtellung. Zunächſt
hat dieſe Erneuerung der bildenden Kunſt den Sinn, daß der Dichter das
Verfahren der bildenden Künſte eigentlich nachahmen, ein Bild ihres ſpezi-
fiſchen Werkes geben kann: Paläſte vor uns aufbauen, Bildwerke, Gemälde,
ſchöne Gärten, gymnaſtiſches Spiel uns vorführen. Es darf nur an die
herrlichen Beiſpiele im Homer erinnert werden. Ungleich weſentlicher jedoch,
als dieſes Nachbilden, iſt das verwandte freie Bilden an demſelben Stoffe.
Dem Dichter ſteht der Wechſel der verſchiedenen Auffaſſungen der
bildenden Künſte zu Gebot und er wird bald dieſe, bald jene in Anwendung
bringen: er nöthigt uns, bald mit meſſendem, bald mit taſtendem, bald mit
maleriſchem Auge zu ſehen. So kann er z. B. Erd- und Bergformen vor
unſerem innern Auge entweder mehr ſo aufbauen, daß unſer Gefühl für
Maſſenverhältniſſe befriedigt wird, oder er kann ihre ſanften Wölbungen,
Sättel, Falten, überhaupt das Bewegtere ihrer Formen dem in das Auge
übergetragenen Taſten vergegenwärtigen, oder endlich dieſe Auffaſſungsweiſen
ganz in eine Licht- und Farbenwirkung ſtimmungsvoll auflöſen. Es gibt
menſchliche Geſtalten, welche nur dem Bildhauer, andere, welche nur dem
Maler günſtigen Stoff bieten; der Dichter, der beides zugleich iſt, hat die
Mittel, ſowohl die einen, als die andern, der entſprechenden Art der An-
ſchauung lebendig entgegenzubringen. Die ächte Poeſie iſt im Vergegen-
wärtigen ſo ſtark, daß wir meinen, ihre Geſtalten greifen zu können;
Homer’s Gebilde leuchten in vollkommen plaſtiſcher Beſtimmtheit der Formen
und Umriſſe, Shakespeare’s Charaktere wandeln in maleriſcher Beleuchtung
ſo nahe zu uns her, daß wir jeden Zug ſehen können. Zu genau darf es
mit dieſem Eindruck allerdings nicht genommen werden, wie ſich anderswo
zeigen wird, die Energie ſeines Scheins iſt aber eine vollſtändige.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/36>, abgerufen am 24.11.2024.
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