Satyre im Unterschiede von der ächten Poesie ist ihre Neigung, einzelne gegebene Formen und Erzeugnisse der Poesie in's Komische zu ziehen, sei es durch Unterschiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des großen und heroischen im parodirten, sei es durch Belassung des Sub- jects und Vertauschung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt modernen im travestirten Originale. Der ächte Komiker beschenkt statt dessen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder travestirte, wie wir schon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter- Romane, sondern schuf in seinem ironischen Bilde des Zusammenstoßes der ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realistischen Roman. Gerade die Geschichte des Romans zeigt übrigens belehrend die mancherlei Uebergänge zwischen Satyre und Komik. So erschien in Deutsch- land manches Satyrische in Romanform gegen den puritanischen Geist der Romane nach Richardson, gegen den Idealismus Klopstock's, gegen Physiognomik, gegen Geniewesen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis diese unreifen Bildungen unter wachsendem Einfluß der englischen Humori- sten, welche selbst von der Ironie gegen Richardson's absolute Tugend- muster ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abschluß fanden. -- Hiemit sehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poesie folgt, zunächst dem epischen. Das komische Epos, das nichts als eine Parodie oder Travestie der Gattung ist, haben wir bereits hieher verwiesen. Das Lyrische muß einem Verhalten, das am liebsten mit wiederholten einzelnen Stichen sich gegen die Welt wendet, natürlich eine besonders angemessene Form sein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieser vorzüglich das Epigramm ihr natürlicher Boden ist, ergibt sich von selbst, aber darum ist ihr doch das leichte Lied nicht verschlossen; je mehr sie sich allerdings in dessen Ton versetzt, um so mehr erhebt sie sich auch in den Humor. Ein schönes Beispiel hievon sind Göthe's "Musen und Grazien in der Mark"; man sieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieser Hand Alles, selbst die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politische Spottlied muß freilich schwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterschied von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatischen kann die der Satyre beliebte Gesprächsform gezogen werden. Lucian hat das Muster gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Per- son auftreten und in der Dialektik der Wechselrede seine inneren Widersprüche naiv bekennen lassen muß; Horaz geht vielfach in diese belebte Form über. Das sechszehnte Jahrhundert hat sie rüstig aufgenommen; wir erinnern nur an U. v. Hutten's Gespräch: die Anschauenden. Auch die Briefform nähert sich, wenn sie verschiedene Personen auftreten läßt, dem Dramatischen; Meisterwerk für alle Zeit bleiben die Epistolae obscurorum virorum. Je
Satyre im Unterſchiede von der ächten Poeſie iſt ihre Neigung, einzelne gegebene Formen und Erzeugniſſe der Poeſie in’s Komiſche zu ziehen, ſei es durch Unterſchiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des großen und heroiſchen im parodirten, ſei es durch Belaſſung des Sub- jects und Vertauſchung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt modernen im traveſtirten Originale. Der ächte Komiker beſchenkt ſtatt deſſen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder traveſtirte, wie wir ſchon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter- Romane, ſondern ſchuf in ſeinem ironiſchen Bilde des Zuſammenſtoßes der ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realiſtiſchen Roman. Gerade die Geſchichte des Romans zeigt übrigens belehrend die mancherlei Uebergänge zwiſchen Satyre und Komik. So erſchien in Deutſch- land manches Satyriſche in Romanform gegen den puritaniſchen Geiſt der Romane nach Richardſon, gegen den Idealiſmus Klopſtock’s, gegen Phyſiognomik, gegen Genieweſen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis dieſe unreifen Bildungen unter wachſendem Einfluß der engliſchen Humori- ſten, welche ſelbſt von der Ironie gegen Richardſon’s abſolute Tugend- muſter ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abſchluß fanden. — Hiemit ſehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poeſie folgt, zunächſt dem epiſchen. Das komiſche Epos, das nichts als eine Parodie oder Traveſtie der Gattung iſt, haben wir bereits hieher verwieſen. Das Lyriſche muß einem Verhalten, das am liebſten mit wiederholten einzelnen Stichen ſich gegen die Welt wendet, natürlich eine beſonders angemeſſene Form ſein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieſer vorzüglich das Epigramm ihr natürlicher Boden iſt, ergibt ſich von ſelbſt, aber darum iſt ihr doch das leichte Lied nicht verſchloſſen; je mehr ſie ſich allerdings in deſſen Ton verſetzt, um ſo mehr erhebt ſie ſich auch in den Humor. Ein ſchönes Beiſpiel hievon ſind Göthe’s „Muſen und Grazien in der Mark“; man ſieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieſer Hand Alles, ſelbſt die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politiſche Spottlied muß freilich ſchwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterſchied von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatiſchen kann die der Satyre beliebte Geſprächsform gezogen werden. Lucian hat das Muſter gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Per- ſon auftreten und in der Dialektik der Wechſelrede ſeine inneren Widerſprüche naiv bekennen laſſen muß; Horaz geht vielfach in dieſe belebte Form über. Das ſechszehnte Jahrhundert hat ſie rüſtig aufgenommen; wir erinnern nur an U. v. Hutten’s Geſpräch: die Anſchauenden. Auch die Briefform nähert ſich, wenn ſie verſchiedene Perſonen auftreten läßt, dem Dramatiſchen; Meiſterwerk für alle Zeit bleiben die Epistolae obscurorum virorum. Je
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0324"n="1460"/>
Satyre im Unterſchiede von der ächten Poeſie iſt ihre Neigung, einzelne<lb/>
gegebene Formen und Erzeugniſſe der Poeſie in’s Komiſche zu ziehen, ſei<lb/>
es durch Unterſchiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des<lb/>
großen und heroiſchen im <hirendition="#g">parodirten</hi>, ſei es durch Belaſſung des Sub-<lb/>
jects und Vertauſchung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt<lb/>
modernen im <hirendition="#g">traveſtirten</hi> Originale. Der ächte Komiker beſchenkt ſtatt<lb/>
deſſen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder<lb/>
traveſtirte, wie wir ſchon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter-<lb/>
Romane, ſondern ſchuf in ſeinem ironiſchen Bilde des Zuſammenſtoßes der<lb/>
ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realiſtiſchen<lb/>
Roman. Gerade die Geſchichte des Romans zeigt übrigens belehrend die<lb/>
mancherlei Uebergänge zwiſchen Satyre und Komik. So erſchien in Deutſch-<lb/>
land manches Satyriſche in Romanform gegen den puritaniſchen Geiſt<lb/>
der Romane nach Richardſon, gegen den Idealiſmus Klopſtock’s, gegen<lb/>
Phyſiognomik, gegen Genieweſen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis<lb/>
dieſe unreifen Bildungen unter wachſendem Einfluß der engliſchen Humori-<lb/>ſten, welche ſelbſt von der Ironie gegen Richardſon’s abſolute Tugend-<lb/>
muſter ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an<lb/>
unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abſchluß fanden. — Hiemit<lb/>ſehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poeſie folgt,<lb/>
zunächſt dem epiſchen. Das komiſche Epos, das nichts als eine Parodie<lb/>
oder Traveſtie der Gattung iſt, haben wir bereits hieher verwieſen. Das<lb/>
Lyriſche muß einem Verhalten, das am liebſten mit wiederholten einzelnen<lb/>
Stichen ſich gegen die Welt wendet, natürlich eine beſonders angemeſſene<lb/>
Form ſein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieſer vorzüglich das<lb/><hirendition="#g">Epigramm</hi> ihr natürlicher Boden iſt, ergibt ſich von ſelbſt, aber darum<lb/>
iſt ihr doch das leichte Lied nicht verſchloſſen; je mehr ſie ſich allerdings in<lb/>
deſſen Ton verſetzt, um ſo mehr erhebt ſie ſich auch in den Humor. Ein<lb/>ſchönes Beiſpiel hievon ſind Göthe’s „Muſen und Grazien in der Mark“;<lb/>
man ſieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieſer Hand Alles, ſelbſt<lb/>
die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politiſche Spottlied muß<lb/>
freilich ſchwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterſchied<lb/>
von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatiſchen<lb/>
kann die der Satyre beliebte Geſprächsform gezogen werden. Lucian hat<lb/>
das Muſter gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Per-<lb/>ſon auftreten und in der Dialektik der Wechſelrede ſeine inneren Widerſprüche<lb/>
naiv bekennen laſſen muß; Horaz geht vielfach in dieſe belebte Form über.<lb/>
Das ſechszehnte Jahrhundert hat ſie rüſtig aufgenommen; wir erinnern<lb/>
nur an U. v. Hutten’s Geſpräch: die Anſchauenden. Auch die Briefform<lb/>
nähert ſich, wenn ſie verſchiedene Perſonen auftreten läßt, dem Dramatiſchen;<lb/>
Meiſterwerk für alle Zeit bleiben die <hirendition="#aq">Epistolae obscurorum virorum.</hi> Je<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1460/0324]
Satyre im Unterſchiede von der ächten Poeſie iſt ihre Neigung, einzelne
gegebene Formen und Erzeugniſſe der Poeſie in’s Komiſche zu ziehen, ſei
es durch Unterſchiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des
großen und heroiſchen im parodirten, ſei es durch Belaſſung des Sub-
jects und Vertauſchung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt
modernen im traveſtirten Originale. Der ächte Komiker beſchenkt ſtatt
deſſen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder
traveſtirte, wie wir ſchon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter-
Romane, ſondern ſchuf in ſeinem ironiſchen Bilde des Zuſammenſtoßes der
ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realiſtiſchen
Roman. Gerade die Geſchichte des Romans zeigt übrigens belehrend die
mancherlei Uebergänge zwiſchen Satyre und Komik. So erſchien in Deutſch-
land manches Satyriſche in Romanform gegen den puritaniſchen Geiſt
der Romane nach Richardſon, gegen den Idealiſmus Klopſtock’s, gegen
Phyſiognomik, gegen Genieweſen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis
dieſe unreifen Bildungen unter wachſendem Einfluß der engliſchen Humori-
ſten, welche ſelbſt von der Ironie gegen Richardſon’s abſolute Tugend-
muſter ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an
unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abſchluß fanden. — Hiemit
ſehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poeſie folgt,
zunächſt dem epiſchen. Das komiſche Epos, das nichts als eine Parodie
oder Traveſtie der Gattung iſt, haben wir bereits hieher verwieſen. Das
Lyriſche muß einem Verhalten, das am liebſten mit wiederholten einzelnen
Stichen ſich gegen die Welt wendet, natürlich eine beſonders angemeſſene
Form ſein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieſer vorzüglich das
Epigramm ihr natürlicher Boden iſt, ergibt ſich von ſelbſt, aber darum
iſt ihr doch das leichte Lied nicht verſchloſſen; je mehr ſie ſich allerdings in
deſſen Ton verſetzt, um ſo mehr erhebt ſie ſich auch in den Humor. Ein
ſchönes Beiſpiel hievon ſind Göthe’s „Muſen und Grazien in der Mark“;
man ſieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieſer Hand Alles, ſelbſt
die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politiſche Spottlied muß
freilich ſchwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterſchied
von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatiſchen
kann die der Satyre beliebte Geſprächsform gezogen werden. Lucian hat
das Muſter gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Per-
ſon auftreten und in der Dialektik der Wechſelrede ſeine inneren Widerſprüche
naiv bekennen laſſen muß; Horaz geht vielfach in dieſe belebte Form über.
Das ſechszehnte Jahrhundert hat ſie rüſtig aufgenommen; wir erinnern
nur an U. v. Hutten’s Geſpräch: die Anſchauenden. Auch die Briefform
nähert ſich, wenn ſie verſchiedene Perſonen auftreten läßt, dem Dramatiſchen;
Meiſterwerk für alle Zeit bleiben die Epistolae obscurorum virorum. Je
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/324>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.