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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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(ächt individuellen) Charakters, Italiener und Franzosen der Leidenschaft.
Wir müssen uns versagen, den ganzen Reichthum wichtiger Begriffe und
Bobeachtungen zu entwickeln, der in den hier angedeuteten Hauptseiten der
Darstellungskunst eingeschlossen liegt, verweisen statt dessen auf Rötscher:
"Die Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem organischen Zusammenhang
wissenschaftlich entwickelt" und bemerken nur noch, daß vermöge der Aufgabe
des Ensemble der einzelne Mime auch das Einzelne seiner Mittel auf die Zu-
sammenwirkung mit den andern zu berechnen hat: die Lehre von der Schau-
spielkunst hat es wesentlich auch mit dem Einklange des Zusammenwirkens
zu thun, nicht nur im tieferen Sinne, sondern im Heraustreten für das
Gehör und namentlich für das Auge in der Gruppirung des Personals
und ihrem Wechsel. -- Ist es nun allerdings wahr, daß die Gewohnheit
der Versetzung in Charaktere und Stimmungen und der künstlichen Annahme
des vollen, unmittelbaren Scheins dieser Versetzung eine Gefahr mit sich
bringt, den Menschen auszuhöhlen, auf den eiteln Schein zu stellen, so
hat der ächte Mime in dem hohen und würdigen Begriffe der Bedeutung
seiner Kunst, eine Interpretinn der Dichtkunst und durch sie der ewigen
Wahrheit des Menschenlebens zu sein, in dem Ernst und Fleiß, den dieser
Begriff fordert und mit sich bringt, das sichere Gegenmittel und ist der
Stand großen Versuchungen ausgesetzt, so ist er nur um so achtungs-
werther, wo er ihnen widersteht. -- Eine weitere Schwäche dieser Kunst,
welche unmittelbar damit gegeben ist, daß sie in lebendigem Stoffe darstellt,
besteht in der Flüchtigkeit ihrer Wirkung; sie "schreibt in's Wasser". Ein
Streben nach um so stärkerem momentanen Erfolg, Empfindlichkeit über
Tadel, gereizte, nervöse Stimmung wird dadurch erklärbar, selbst entschuldbar,
den höheren Künstler stärkt dagegen das Bewußtsein der Intensität und
des stillen Nachwirkens der Wirkung.

2. Der Gegensatz der Style in der Poesie spricht sich so schlagend in
der Schauspielkunst aus, daß er durch sie in volles Licht tritt, an ihr auf's
Belehrendste nachgewiesen werden kann. Dem plastischen Charakter des
antiken Drama's entsprach die Maske, der Kothurn, die feierlich typische
Kleidung, das einfach große System der Bewegungen, wodurch der Schau-
spieler als wandelnde Statue erschien, der recitativartige, stellenweise in
Gesang übergehende Vortrag. Hier galt es nur die substanziellen, gewal-
tigen Grundzüge; die Durchführung in das Spezielle und Individuelle, die
feinere Schattirung war ausgeschlossen. Es hieng dieß Alles mit der
Scenerie, zu der wir erst im folg. §. übergehen, namentlich dem Spiel im
hellen Tageslichte zusammen. In Allem ist das moderne Spiel das gerade
Gegentheil, das volle Bild des malerischen Styls im Gegensatze des plasti-
schen; hier wird durchaus spezialisirt, detaillirt, während dort generalisirt
wird, hier ist Alles porträtartig, physiognomisch. Allein der Gegensatz

(ächt individuellen) Charakters, Italiener und Franzoſen der Leidenſchaft.
Wir müſſen uns verſagen, den ganzen Reichthum wichtiger Begriffe und
Bobeachtungen zu entwickeln, der in den hier angedeuteten Hauptſeiten der
Darſtellungskunſt eingeſchloſſen liegt, verweiſen ſtatt deſſen auf Rötſcher:
„Die Kunſt der dramatiſchen Darſtellung in ihrem organiſchen Zuſammenhang
wiſſenſchaftlich entwickelt“ und bemerken nur noch, daß vermöge der Aufgabe
des Ensemble der einzelne Mime auch das Einzelne ſeiner Mittel auf die Zu-
ſammenwirkung mit den andern zu berechnen hat: die Lehre von der Schau-
ſpielkunſt hat es weſentlich auch mit dem Einklange des Zuſammenwirkens
zu thun, nicht nur im tieferen Sinne, ſondern im Heraustreten für das
Gehör und namentlich für das Auge in der Gruppirung des Perſonals
und ihrem Wechſel. — Iſt es nun allerdings wahr, daß die Gewohnheit
der Verſetzung in Charaktere und Stimmungen und der künſtlichen Annahme
des vollen, unmittelbaren Scheins dieſer Verſetzung eine Gefahr mit ſich
bringt, den Menſchen auszuhöhlen, auf den eiteln Schein zu ſtellen, ſo
hat der ächte Mime in dem hohen und würdigen Begriffe der Bedeutung
ſeiner Kunſt, eine Interpretinn der Dichtkunſt und durch ſie der ewigen
Wahrheit des Menſchenlebens zu ſein, in dem Ernſt und Fleiß, den dieſer
Begriff fordert und mit ſich bringt, das ſichere Gegenmittel und iſt der
Stand großen Verſuchungen ausgeſetzt, ſo iſt er nur um ſo achtungs-
werther, wo er ihnen widerſteht. — Eine weitere Schwäche dieſer Kunſt,
welche unmittelbar damit gegeben iſt, daß ſie in lebendigem Stoffe darſtellt,
beſteht in der Flüchtigkeit ihrer Wirkung; ſie „ſchreibt in’s Waſſer“. Ein
Streben nach um ſo ſtärkerem momentanen Erfolg, Empfindlichkeit über
Tadel, gereizte, nervöſe Stimmung wird dadurch erklärbar, ſelbſt entſchuldbar,
den höheren Künſtler ſtärkt dagegen das Bewußtſein der Intenſität und
des ſtillen Nachwirkens der Wirkung.

2. Der Gegenſatz der Style in der Poeſie ſpricht ſich ſo ſchlagend in
der Schauſpielkunſt aus, daß er durch ſie in volles Licht tritt, an ihr auf’s
Belehrendſte nachgewieſen werden kann. Dem plaſtiſchen Charakter des
antiken Drama’s entſprach die Maske, der Kothurn, die feierlich typiſche
Kleidung, das einfach große Syſtem der Bewegungen, wodurch der Schau-
ſpieler als wandelnde Statue erſchien, der recitativartige, ſtellenweiſe in
Geſang übergehende Vortrag. Hier galt es nur die ſubſtanziellen, gewal-
tigen Grundzüge; die Durchführung in das Spezielle und Individuelle, die
feinere Schattirung war ausgeſchloſſen. Es hieng dieß Alles mit der
Scenerie, zu der wir erſt im folg. §. übergehen, namentlich dem Spiel im
hellen Tageslichte zuſammen. In Allem iſt das moderne Spiel das gerade
Gegentheil, das volle Bild des maleriſchen Styls im Gegenſatze des plaſti-
ſchen; hier wird durchaus ſpezialiſirt, detaillirt, während dort generaliſirt
wird, hier iſt Alles porträtartig, phyſiognomiſch. Allein der Gegenſatz

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[1452/0316] (ächt individuellen) Charakters, Italiener und Franzoſen der Leidenſchaft. Wir müſſen uns verſagen, den ganzen Reichthum wichtiger Begriffe und Bobeachtungen zu entwickeln, der in den hier angedeuteten Hauptſeiten der Darſtellungskunſt eingeſchloſſen liegt, verweiſen ſtatt deſſen auf Rötſcher: „Die Kunſt der dramatiſchen Darſtellung in ihrem organiſchen Zuſammenhang wiſſenſchaftlich entwickelt“ und bemerken nur noch, daß vermöge der Aufgabe des Ensemble der einzelne Mime auch das Einzelne ſeiner Mittel auf die Zu- ſammenwirkung mit den andern zu berechnen hat: die Lehre von der Schau- ſpielkunſt hat es weſentlich auch mit dem Einklange des Zuſammenwirkens zu thun, nicht nur im tieferen Sinne, ſondern im Heraustreten für das Gehör und namentlich für das Auge in der Gruppirung des Perſonals und ihrem Wechſel. — Iſt es nun allerdings wahr, daß die Gewohnheit der Verſetzung in Charaktere und Stimmungen und der künſtlichen Annahme des vollen, unmittelbaren Scheins dieſer Verſetzung eine Gefahr mit ſich bringt, den Menſchen auszuhöhlen, auf den eiteln Schein zu ſtellen, ſo hat der ächte Mime in dem hohen und würdigen Begriffe der Bedeutung ſeiner Kunſt, eine Interpretinn der Dichtkunſt und durch ſie der ewigen Wahrheit des Menſchenlebens zu ſein, in dem Ernſt und Fleiß, den dieſer Begriff fordert und mit ſich bringt, das ſichere Gegenmittel und iſt der Stand großen Verſuchungen ausgeſetzt, ſo iſt er nur um ſo achtungs- werther, wo er ihnen widerſteht. — Eine weitere Schwäche dieſer Kunſt, welche unmittelbar damit gegeben iſt, daß ſie in lebendigem Stoffe darſtellt, beſteht in der Flüchtigkeit ihrer Wirkung; ſie „ſchreibt in’s Waſſer“. Ein Streben nach um ſo ſtärkerem momentanen Erfolg, Empfindlichkeit über Tadel, gereizte, nervöſe Stimmung wird dadurch erklärbar, ſelbſt entſchuldbar, den höheren Künſtler ſtärkt dagegen das Bewußtſein der Intenſität und des ſtillen Nachwirkens der Wirkung. 2. Der Gegenſatz der Style in der Poeſie ſpricht ſich ſo ſchlagend in der Schauſpielkunſt aus, daß er durch ſie in volles Licht tritt, an ihr auf’s Belehrendſte nachgewieſen werden kann. Dem plaſtiſchen Charakter des antiken Drama’s entſprach die Maske, der Kothurn, die feierlich typiſche Kleidung, das einfach große Syſtem der Bewegungen, wodurch der Schau- ſpieler als wandelnde Statue erſchien, der recitativartige, ſtellenweiſe in Geſang übergehende Vortrag. Hier galt es nur die ſubſtanziellen, gewal- tigen Grundzüge; die Durchführung in das Spezielle und Individuelle, die feinere Schattirung war ausgeſchloſſen. Es hieng dieß Alles mit der Scenerie, zu der wir erſt im folg. §. übergehen, namentlich dem Spiel im hellen Tageslichte zuſammen. In Allem iſt das moderne Spiel das gerade Gegentheil, das volle Bild des maleriſchen Styls im Gegenſatze des plaſti- ſchen; hier wird durchaus ſpezialiſirt, detaillirt, während dort generaliſirt wird, hier iſt Alles porträtartig, phyſiognomiſch. Allein der Gegenſatz

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/316>, abgerufen am 22.11.2024.